Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

KULTUR


120 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


Z


weieinhalb Jahre ist es her, dass sie aus
dem Team der Berliner Festspiele aus-
geschieden ist, und noch immer kämpft
Julia Kersten mit den Tränen, wenn sie von
ihrem Job spricht. »Unter den Chefs gab es
niemanden, an den man sich wenden konn-
te«, sagt sie. »Ausufernd viele Überstunden«
habe sie geleistet, »nichts wurde dagegen ge-
tan«, sagt Kersten, die als Mitarbeiterin der
Programmreihe »Immersion« engagiert war.
Ihr Ex-Kollege Jens Hamann arbeitete in
verschiedenen Bereichen des Hauses, bevor
er einen Burn-out erlitt. Der Intendant Tho-
mas Oberender habe oft täglich neue Ideen
präsentiert, die noch schnell und häufig nach
Feierabend umgesetzt werden sollten. Am
nächsten Tag hätten die jeweils neuesten Ein-


fälle von Oberender, so Hamann, oft die
Arbeit vom Vortag hinfällig gemacht.
Als er innerhalb von vier Monaten 150
Überstunden angehäuft hatte, wandte sich
Hamann an eine Vorgesetzte. Deren Antwort:
»Na und? Andere haben 300 Überstunden.«
Oberender bestreitet die Vorwürfe. Weder
hätten ihn über den Betriebsrat Beschwerden
über seinen Führungsstil erreicht, noch wäre
er untätig wegen Überlastungen gewesen. Er
habe Modelle zum Abbau von Überstunden
vereinbart und teils externe Dienstleister zur
Entlastung beschäftigt. »Die Überforderung,
die ich einigen meiner Kolleg*innen unwil-
lentlich zugefügt habe«, so Oberender, »hat-
te andere Ursachen. Ich wollte Veränderung,
Dynamik, aber auch eine andere Art von Mit-

einander fördern. Das verband sich mit steti-
gem Wandel und also Unstetigsein, Experi-
mentieren, Schwärmen und Verwerfen.«
Hamann war nach seinem Burn-out ins-
gesamt zwei Jahre lang krankgeschrieben.
Kersten hörte aus eigenem Entschluss auf.
Wegen der Einjahresverträge, die sie erhalten
hatte, war das damals ein Leichtes – für beide
Seiten. Den Führungsfiguren halfen die kurz-
fristigen Anstellungsvereinbarungen offenbar
dabei, Druck auszuüben. »Wer bleiben woll-
te, wusste oft bis November nicht, ob es im
Januar für ihn weitergeht«, sagt Hamann.
Sein Name und der von Kersten wurden auf
deren Wunsch hin geändert. Obwohl beide
mittlerweile anderweitig beschäftigt sind, ha-
ben sie Angst davor, in der Berliner Kultur-

Das Drama der Achtsamkeit


THEATER Viele deutsche Bühnen sind bis heute undemokratisch organisiert – nach


zahlreichen Fällen von Machtmissbrauch sucht die Szene neue


Führungsmodelle. Kann ein tolles Programm auch ohne das Genie an der Spitze gelingen?


Deutsche Spiel-
stätten Maxim Gorki
Theater, Volks-
bühne, Haus der
Berliner Festspiele:
Das Zeitalter der
tobsuchtswilligen
Genies auf
Regiesesseln
scheint vorbei

Annette Riedl / picture alliance / dpa

Rolf Zöllner / SZ Photo Mathias Völzke / Haus der Berliner Festspiele
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