Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
KULTUR

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 121

szene auf Oberender und Ex-Vorge-
setzte zu treffen, die ihrer Ansicht
nach nichts gegen Missstände taten.
Oberender, 55, gab seinen Inten-
dantenposten im Juni 2021 überra-
schend auf. Die Berliner Festspiele,
die unter anderem das am kommen-
den Freitag beginnende Theatertref-
fen ausrichten, werden bis zum Antritt
des künftigen Intendanten Matthias
Pees im Herbst von einer Übergangs-
crew geleitet. Einige Monate nach
Oberenders Abgangsankündigung
wurde bekannt, dass ihm großer Per-
sonalverschleiß und wenig wertschät-
zende Behandlung seiner Mitarbeiter
vorgeworfen werden.
Nach SPIEGEL-Informationen kam
es zu mindestens vier Fällen von
Burn-out. Oberender sagt, dass er
von Burn-out-Fällen teils erst Monate
später erfahren habe, da Krankheits-
diagnosen Vorgesetzten prinzipiell
nicht mitgeteilt würden. Burn-out sei
auch »das Ergebnis von strukturellen
und persönlichen Komponenten, die
ich nicht komplett überschaut habe
oder denen gegenüber ich mich zu
nachgiebig verhalten habe«.
Die Vorwürfe gegen den Festspiele-
Chef, der unmittelbar der Kulturstaats-
ministerin – zu Oberenders Zeiten
Monika Grütters – unterstellt ist,
haben eine in den vergangenen Jah-
ren unter Theaterleuten hitzig geführ-
te Diskussion neu befeuert. Künst-
lerinnen und Künstler, Kulissenper-
sonal und Führungskräfte aus der
Theater- und Festivalbranche streiten
darüber, wie Machtmissbrauch in
Theatern, Balletttruppen, Opernhäu-
sern und Festivalbetrieben zu verhin-
dern ist. Umstritten sind dabei die
Vorgaben dafür, welche Sorte von
Persönlichkeiten es an der Spitze von
öffentlich subventionierten Kultur-
stätten braucht – und unter welchen
Bedingungen an diesen Häusern ge-
arbeitet werden sollte.
In der Hauptstadt wurden in den
vergangenen Jahren besonders viele
Vorwürfe publik. Der Leiter des Ber-
liner Theaters an der Parkaue wurde
2019 beschuldigt, eine Schauspielerin
verbal rassistisch beleidigt zu haben –
und musste gehen. 2020 wurde durch
SPIEGEL-Recherchen bekannt, dass
eine Ballerina des Berliner Staatsbal-
letts von einer Ballettmeisterin wegen
ihrer Hautfarbe beim Training dis-
kriminiert wurde. Im März 2021
schied Klaus Dörr als Intendant der
Volksbühne aus dem Amt, nachdem
ihm sexistisches Verhalten vorgewor-
fen worden war.
Ebenfalls im vergangenen Jahr be-
richteten mehrere Medien, darunter
der SPIEGEL, über machtmissbräuch-


liches Verhalten von Shermin Lang-
hoff, der Intendantin des Berliner
Maxim Gorki Theaters. Langhoff soll
in ihrem Haus Mitarbeitende wieder-
holt angebrüllt haben und auch kör-
perlich übergriffig gewesen sein. Ber-
lins Kultursenator Klaus Lederer (Die
Linke) entschied trotz der Vorwürfe,
den Vertrag Langhoffs, die seit Jahren
mit dem Gorki und seinem diversen,
als »postmigrantisch« deklarierten
Ensemble die deutsche Theaterwelt
aufmischt, bis mindestens 2026 wei-
terlaufen zu lassen. Dafür wurde er
kritisiert.
Aber wie sehen künftig die Auf-
führungen aus, die auf der Bühne prä-
sentiert werden, wenn Achtsamkeit
bei der Probenarbeit das oberste Ge-
bot ist und jeder Befehlston geächtet
ist, weil er als potenziell übergriffig
verstanden wird? Sie fürchte, »dieses
Grundbedürfnis, alles sicher zu ma-
chen, tötet die Kunst«, hat Karin
Beier, Intendantin des Hamburger
Schauspielhauses, in der Fachzeit-
schrift »Theater heute« verkündet.
Sie habe eine Abneigung dagegen,
»humorloses Theater zu machen«.
Tatsächlich wäre die oft heitere
und manchmal grimmige Egomanie,
mit der berühmte Regisseurinnen und
Regisseure wie Andrea Breth oder
Peter Zadek prägende Aufführungen
der jüngeren Theatergeschichte zu-
stande gebracht haben, heute in vie-
len Theatern ein Grund zum Proben-
abbruch. Wo genau der künstlerische
Furor seine Grenzen hat und der psy-
chische und verbale Machtmiss-
brauch beginnt, mag nicht immer klar
sein – das Zeitalter der tobsuchtswil-
ligen Genies in Chefetagen und auf
Regiesesseln scheint jedenfalls vorbei.
»Das Prinzip der allein regieren-
den Intendantenpersönlichkeit ist dis-
kreditiert und erledigt«, sagt Jens
Hillje. »Zugleich sind Theater in vie-
len Städten immer noch das am we-
nigsten demokratisierte Gebiet der
Arbeitslandschaft. Es gibt keine Kon-
trolle von oben und keine von unten.«
Eine funktionierende gewerkschaft-
liche Vertretung fehle ebenso wie eine
klare Aufsichtsstruktur.
Hillje, 54, ist einer der wichtigen
Köpfe der deutschsprachigen Thea-
terwelt. Er hat lange an der Seite des
Regisseurs Thomas Ostermeier im
Führungsteam der Berliner Schau-
bühne gearbeitet und war neben
Shermin Langhoff von 2013 bis 2019
Co-Intendant des Maxim Gorki Thea-
ters. Trotz der öffentlich deklarierten
Doppelspitze habe Berlins damaliger
Kulturstaatsekretär André Schmitz
bei der Anstellung darauf bestanden,
dass allein Langhoff verantwortliche

Chefin im Haus sei, sagt Hillje. Wieso
hat er also den Gorki-Job abgegeben?
Die Antwort ist diplomatisch formu-
liert: »Das Prinzip des allein regie-
renden Theaterchefs sorgt für eine
Machtfülle, die, das wissen wir auch
aus anderen Lebensbereichen, immer
irgendwann aus dem Ruder läuft.«
In vielen Kulturbetrieben werde
ein falsches Verständnis von Künstler-
tum und künstlerischer Freiheit kon-
serviert, sagt Hillje. Das beginne bei
den oft prekären Beschäftigungsver-
hältnissen. Der »Normalvertrag Büh-
ne«, der in deutschen Theatern die
Regel ist, legt fest, dass künstlerisch
tätiges Personal jährlich kündbar ist.
»Intendanten dürfen in der Zeit, für
die sie gewählt sind, willkürlich sehr
viele Entscheidungen treffen, ohne
zur Rechenschaft gezogen zu wer-
den«, so Hillje. Er wünscht sich, dass
die Politik, wie es beispielsweise in
Skandinavien und den Beneluxstaa-
ten üblich ist, auch Zweier- oder
Dreier-Führungsteams zulässt. »Wir
haben allein in Deutschland rund
140 Stadt- und Staatstheater. Bis heu-
te werden praktisch sämtliche dieser
Häuser autokratisch geführt.«
Eine Ausnahme ist zum Beispiel
die Berliner Volksbühne, die seit dem
Abschied von Frank Castorf 2017 und
einer Kurzzeit-Intendanz des Belgiers
Chris Dercon das umstrittenste Thea-
ter der Republik ist. Dort versucht
derzeit René Pollesch, 59, ein weniger
rigides Leitungsmodell zu praktizie-
ren. Zu Beginn seiner Chefarbeit an
der Volksbühne sagte er in einem
Interview, er wisse gar nicht, was ein
»Intendant sein soll«.
Heute gilt er vielen Kritikerinnen
und Kritikern bereits nach einem gu-
ten Jahr als gescheitert. Die Besucher-
zahlen des Theaters sind mau. Es gab
Flops, gescheiterte Regievorhaben,
allerdings auch großes Lob für Pol-
leschs eigene Inszenierungen wie
zuletzt den Galaabend »Geht es dir
gut?«. Der Spielplan der Volksbühne
ist auch im Mai wie zuvor schon oft
voller Löcher. Es fänden in der Volks-
bühne zwar eine Unzahl von Drama-
turgiesitzungen statt, aber leider viel
zu wenige Vorstellungen, wird in Ber-
lin über die Palaverkultur der aktuel-
len Hausbesetzung gespottet – weil
hier eben nicht einer durchregiere.
Er sei angetreten, um »eine kollek-
tive autonome Arbeitspraxis für das
Theater hochzuhalten«, sagt Pollesch
heute. Er halte es weiterhin für sinn-
voll, »die Daseinsberechtigung eines
Intendanten grundvoraussetzend in-
frage zu stellen«. So wie es für Schau-
spielerinnen und Schauspieler verfüh-
rerisch sei, sich Theater ohne Regie

»Es gibt keine
Kontrolle
von oben und
keine von
unten.«
Jens Hillje,
Dramaturg

Berliner Führungs-
köpfe:
1 | Jens Hillje, Shermin
Langhoff
2 | Thomas Oberender
3 | René Pollesch

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Bernd von Jutrczenka / dpa

Jens Kalaene / dpa

Andreas Pein / laif
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