Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

KULTUR


122 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


vorzustellen, müsse man sich Theater-
häuser auch ohne Intendanz vorstel-
len dürfen. »Es macht ja auch Spaß,
die Polemik zu denken.«
Pollesch versucht, eigene Wege zu
gehen, sein Haus steht aber unter
großem Produktionsdruck, weil die
Volksbühne eigentlich jeden Tag
Programm bieten sollte. Ebendieser
Druck, der in vielen Theatern herrscht,
gilt Fachleuten als eine der Ursachen
für gruselige Arbeitsbedingungen.
Immerhin hat der Deutsche Bühnen-
verein inzwischen Compliance-Re-
geln formuliert. »Nur wenn man un-
abhängige Aufsichtsgremien schafft,
kann man die Situation grundlegend
verbessern«, sagt Ex-Theaterleiter
Hillje, der nun als Dramaturg für freie
Produktionen arbeitet. Doch weil
Theater weitestgehend Ländersache
und von der Politik gesteuert sind,
gebe es starke regionale Unterschiede
bei der Kontrolle. »Wenn es in Mün-
chen oder in Nordrhein-Westfalen
Ärger in einem Theater gibt, dann
landet das sofort beim Kulturreferen-
ten«, sagt Hillje. »In Berlin funktio-
niert diese Aufsicht nach meiner Er-
fahrung leider nicht.«
Joachim Lux, Chef des Hamburger
Thalia Theaters, gehört zu denen, die
die Klagen über die Defizite der deut-
schen Bühnenbetriebe für übertrie-
ben halten. »Wie in allen anderen
Betrieben auch gibt es gute oder
schlechte Leitungen. Und natürlich
auch hin und wieder echtes Leitungs-
versagen«, sagt der 64-Jährige. In
allen halbwegs gut organisierten
Theatern gebe es schon heute funk-
tionierende Kontroll- und Beschwerde-
instanzen, so Lux. »Wenn eine Mit-
arbeiterin oder ein Mitarbeiter Pro-
bleme hat – und in jedem Theater gibt
es wie in jeder Schraubenfabrik und
jeder Zeitungsredaktion natürlich
Probleme –, dann gibt es einen ziem-
lich großen Instrumentenkoffer: die
Möglichkeit, zu den unmittelbar Vor-
gesetzten zu gehen, zu den Ensemble-
sprechern, zum Betriebsrat, zur Ge-
schäftsführung, zum Betriebsdirektor,
zum Verwaltungsdirektor. Auch au-
ßer halb der Institution existieren
mehr und mehr Stellen, an die man
sich wenden kann.«
Lux hält das herkömmliche Inten-
dantenmodell durchaus für zukunfts-
fähig. Was übergriffiges Verhalten
Einzelner angehe, sei »die Sensibili-
sierung in den vergangenen Jahren
extrem und völlig zu Recht gewach-
sen«, so Lux. »Das ist auch ein Gene-
rationenkonflikt.« Die Ruppigkeit,
mit der Regisseure wie Johann Kres-
nik oder Christoph Schlingensief frü-
her auf Proben mit ihren Crews um- Wolfgang Höbel, Hannah Pilarczyk n


sprangen, wäre heute »nicht mehr
möglich«, sagt er. »Da hat sich die
Verhaltenskultur nicht nur im Thea-
ter, sondern auch grundsätzlich in der
Gesellschaft krass geändert.«
Er bezweifle, dass Theater mit
zwei, drei oder fünf gleichberechtig-
ten künstlerischen Chefs besser funk-
tionierten als die unter einem Boss.
»Klar kann man das ausprobieren.
Aber in der Politik gibt es auch nur
einen Bundeskanzler. Der hat die
Richtlinienkompetenz. Trotzdem
kann er nicht einfach machen, was er
will, und muss mit seinen Ministern
und seinem Vizekanzler Rücksprache
halten.« Auch im überkommenen
Intendantenmodell kontrolliere ein
Geschäftsführer den künstlerischen
Prinzipal. »Die Machtaufteilung gibt
es längst. Am Thalia herrscht eine
Doppelspitze mit Einigungszwang.«
Anders als in Deutschland und Ös-
terreich zeigen sich Kulturpolitikerin-
nen und Politiker in der Schweiz in
jüngster Zeit aufgeschlossen für alter-
native Theaterleitungs-Konstruk-
tionen. In Basel wird die Schauspiel-
sparte seit 2020 von einem gleich-
berechtigten Viererteam geleitet.
Darin werkeln die Dramaturginnen
Anja Dirks und Inga Schonlau, der
Regisseur Antú Romero Nunes und
der Schauspieler Jörg Pohl: bislang
häufig mit künstlerischem Erfolg und
ohne öffentlich bekannt gewordene
Missbrauchs- oder Machtkonflikte.
In Zürich regiert das Intendanten-
Duo Benjamin von Blomberg und
Nicolas Stemann seit Herbst 2019
gleichberechtigt das Schauspielhaus.
Die beiden sind angetreten unter an-
derem mit dem Versprechen auf »hie-
rarchiefreie Räume« und ein »Klima
der Entschleunigung« und wollten
»Formen der kollektiven Führung«
entwickeln, »die auch außerhalb des
künstlerischen Betriebs Vorbild sein
könnten«. Es klingt ein bisschen, als
wollte eine Hippiekommune das

Stadttheater neu erfinden. Die Resul-
tate der Arbeit sind durchwachsen,
mal toll, mal gruselig.
Zahlreiche Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter aus dem ursprünglichen
Schauspielhausteam haben sich aber
bereits wieder verabschiedet. Ste-
mann sagt, dass an seinem Haus
»nicht konfliktfrei« gearbeitet werde.
»Wir leben in Zeiten großer gesell-
schaftlicher Veränderungen. Macht-
strukturen, Diskriminierung, Teil-
habe – das wird gerade alles intensiv
diskutiert. Mag sein, dass es Theater
gibt, die sich diesen Diskussionen ver-
schließen, aber wir wollten das nie
tun.« Gemeinsam mit seinem Co-
Chef hat er eine Agentin für Diversi-
tät engagiert, »wir arbeiten an einem
Code of Conduct und haben eine ex-
terne Fachstelle verpflichtet, an die
man sich im Fall von Diskriminierung
und Machtmissbrauch wenden kann.
Das gab es vorher alles nicht«.
Früher seien Theater offenbar nicht
selten wie Sekten von einem Guru
geleitet worden, sagt Stemann. Er
sehe nur Vorteile darin, sich unter
sieben fest ans Haus gebundenen Kol-
leginnen und Kollegen als Regisseur
Vergleichen auszusetzen. So sei er mit
Handschriften konfrontiert, »die mei-
ne Art, Theater zu machen, heraus-
fordern und infrage stellen«.
Noch fortschrittlicher gibt man
sich im Theater Gessner allee in Zü-
rich, einer freien Spielstätte, in der
vor allem Gastspiele gezeigt werden.
Seit Herbst 2020 steht die 32-jährige
Michelle Akanji zusammen mit der
zwei Jahre älteren Juliane Hahn dem
Haus vor. »Gefühlt steht unsere erste
richtige Spielzeit erst noch an«, sagt
Akanji. Sie meint ihre und Hahns von
der Coronapandemie durchkreuzten
Pläne, mit einem neuen Programm-
schema nicht bloß neues Publikum
anzuziehen, sondern auch Erleichte-
rungen fürs Team zu schaffen.
Statt eines kontinuierlichen Spiel-
plans sind pro Spielzeit fünf jeweils
fünfwöchige Themenzyklen angesetzt,
in denen Aufführungen, Klubabende
und Panels thematisch gebündelt prä-
sentiert werden. In den Spielpausen
können die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter des Hauses Überstunden
abbauen. Selbst mit den Schulferien
ist das Programm abgestimmt, »so-
dass Leute mit Familie in den Urlaub
fahren können«, so Hahn.
»Endlich fällt das Theaterpatriar-
chat« war auf einer Stadtmagazin-
Website zum Start der beiden zu le-
sen. Wenn das für alle mehr Freizeit
und Entspannung bedeutet, ist es
sicher nicht verkehrt.

Führungsduo
Stemann, Blomberg:
Gleichberechtigte
Intendanz

Leiterinnen des
Theaters Gessner-
allee Akanji, Hahn:
»Endlich fällt das
Theaterpatriarchat«

Gaetan Bally / KEYSTONE / picture alliance

Elio Donauer
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