Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
TITEL

16 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.

Grüne Rüstungsgegner Gert Bastian, Petra Kelly,
Lukas Beckmann 1983 Vizekanzler Fischer beim Parteitag 1999

Lange Geschichte


Sinneswandel


»Soll die deutsche Regierung die Ukraine mit
Waffenlieferungen unterstützen?«, Zustimmung
unter Anhängern der Grünen, in Prozent

S◆Civey-Umfrage vom 19. Jan. bis 18. Febr. und vom


  1. bis 28. Apr.; Befragte: jeweils mehr als 5000; die
    statistische Ungenauigkeit liegt bei bis zu 6,4 Prozentpunkten;
    an 100 fehlende Prozent: »nein« oder »unentschieden«


falls Russland militärisch angreift (18. Febr.)

nachdem Russland angegriffen hat (28. Apr.)

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88

so gut ausgestattet sein, dass sie ihren Luft-
raum schließen kann. Wir müssen verhindern,
dass aus diesem Land ein zweites Syrien
wird.« Alte Panzer aus NVA-Beständen, die
bei Beschuss leicht explodieren können, seien
zwar schnell einsatzfähig, aber keine ideale
Lösung, weil sie zur Todesfalle für ukrainische
Soldaten werden könnten.
Ein »totalitäres Regime«, sagt Beck, müs-
se »notfalls militärisch niedergerungen wer-
den«. Es sei »sehr irritierend«, dass man das
gerade in Deutschland mit seiner Vergangen-
heit nicht einsehe.
So klingen jetzt die Grünen. Von der »femi-
nistischen Außenpolitik« hingegen, mit der
sie SPD und FDP noch in den Koalitionsver-
handlungen auf die Nerven gefallen waren, ist
kaum noch die Rede. Sie hat mit der grünen
Politik dieser Tage nicht mehr viel zu tun.
Die Denkschule setzt sich für Menschen-
rechte und die Gleichberechtigung in der Di-
plomatie ein, vor allem aber für Konfliktprä-
vention – also dafür, Kriege erst gar nicht
entstehen zu lassen. Die Frage ist, wie das
funktionieren soll, wenn jemand wie Putin
zum Angriffskrieg entschlossen ist.
Eine einheitliche Definition feministischer
Außenpolitik gibt es zwar nicht, aber Forde-
rungen nach Waffenlieferungen und Aufrüs-
tung betrachten die meisten Anhängerinnen
und Anhänger des Ansatzes eher als Rück-
schritt. Baerbock versucht, den Widerspruch
zu umschiffen, indem sie immer wieder auf
die Opfer des Krieges hinweist, auf Frauen
und Kinder, auch das ist ein Anliegen dieser
Denkschule.
Das ändert aber nichts daran, dass die
Außenministerin derzeit vor allem mit schwe-


rem Gerät versucht, möglichst viele weitere
Opfer zu vermeiden.
In der SPD wächst der Ärger darüber mit
jedem Tag. Allerdings wissen die Genossen,
dass die Opposition, vor allem die Union,
es sofort ausnutzen würde, sollte die Regie-
rung sich zerlegen. Die Sozialdemokraten
müssen vorsichtig bleiben, sie vermeiden es,
die Grünen-Spitzenvertreter frontal anzu-
gehen – und konzentrieren ihren Unmut
stattdessen auf eine Figur wie Hofreiter, der
zwar derzeit die grüne Außendarstellung
prägt, für das Regierungshandeln aber keine
Rolle spielt.
Außerdem attackierte er kürzlich direkt
Olaf Scholz: »Das Problem ist im Kanzler-
amt«, sagte Hofreiter. All das macht ihn zum
dankbaren Ziel für die Sozialdemokraten.
In der SPD-Fraktionssitzung am Dienstag
entlud sich der Ärger. Bei Hofreiter bekomme
man »den Eindruck als habe sich die Haltung
›Nie wieder Krieg‹ in ›Nie wieder Krieg ohne
uns‹ geändert«, schimpfte der Europapolitiker

Axel Schäfer. Hofreiter komme nicht darüber
hinweg, dass er nicht Minister geworden sei.
Säße er neben Scholz am Kabinettstisch, wür-
de er sicherlich das Gegenteil sagen, sagte
Schäfer. »Dass das niemand in der SPD mal
deutlich macht, verstehe ich nicht.«
Fraktionschef Rolf Mützenich spottete laut
Teilnehmern über »Leute, die ohne Experti-
se täglich vor den Kameras etwas Neues for-
dern« – auch das verstanden einige so, dass
es auf Hofreiter gemünzt war. Und der Partei-
linke Ralf Stegner nimmt die Grünenspitze
in die Pflicht: Er wünsche sich, dass Hofreiter
deutlicher widersprochen werde, sagt er.
Zwar gingen sowohl Robert Habeck als
auch die Parteivorsitzenden Ricarda Lang
und Omid Nouripour bereits öffentlich auf
Distanz zu Hofreiter, doch den Sozialdemo-
kraten genügt das nicht, sie sehen den Koali-
tionsfrieden bedroht – oder wollen einfach
ihren Kanzler schützen.
Eine SPD-Abgeordnete erinnert daran,
wie heftig Andrea Nahles als Fraktionschefin
interne Kritiker zur Räson gerufen habe.
»Partei- und Fraktionsspitze der Grünen sind
dazu nicht in der Lage«, kritisiert die Genos-
sin. »Das zeigt, dass die Grünen noch nicht
in der Regierung angekommen sind.«
Die Grünen geben sich davon unbeein-
druckt, sie müssen sich ganz andere Sachen
anhören. Als Habeck diese Woche bei einer
Wahlkampfveranstaltung in Bielefeld auftrat,
redete er gegen ein Pfeifkonzert an und blick-
te auf ein ziemlich großes Transparent, das
ihm entgegengehalten wurde. »Grüne =
Kriegstreiber« stand darauf.
Habeck ist nicht der erste grüne Minister,
der auf diese Weise attackiert wird. Die Grü-

Sven Simon / ullstein bild K. B. Karwasz
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