Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
TITEL

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 17

nen und der Krieg, das ist mittlerwei-
le eine lange Geschichte.
Die Partei hat starke Wurzeln in
der Friedens- und der Umweltbewe-
gung der Siebzigerjahre. Beide Strö-
mungen konnten sich hinter einem
Satz vereinigen: Wir haben Angst vor
dem Atomtod. Die einen protestier-
ten gegen die atomare Hochrüstung,
die anderen gegen Kernkraftwerke,
viele gegen beides.
Für Pazifismus stand in der Früh-
zeit vor allem Petra Kelly, die 1980
mit anderen die grüne Partei gründe-
te und eine der großen Kämpferinnen
gegen die Nachrüstung der Nato mit
Raketen war. Gegen Atomwaffen zu
sein hieß aber nicht für alle Grünen,
Gewalt generell abzulehnen.
Der spätere Außenminister Josch-
ka Fischer hatte als junger Mann in
Frankfurt auf einen Polizisten ein-
gedroschen. Der spätere Menschen-
rechtsbeauftragte der Bundesregie-
rung, Tom Koenigs, hatte sein statt-
liches Erbe in jungen Jahren unter
anderem dem Vietcong für den
Kampf gegen die USA in Vietnam ge-
spendet.
Der Kommunistische Bund West-
deutschland (KBW) unterstützte be-
waffnete Freiheitsbewegungen in al-
ler Welt, überdies das Regime von Pol
Pot in Kambodscha, das verantwort-
lich war für einen Genozid an der
eigenen Bevölkerung. Eine Spenden-
aktion erbrachte 150 000 Mark für
die Schlächter der Roten Khmer, wie
der Publizist Gerd Koenen in seinem
Buch »Das rote Jahrzehnt« berichtet.
Er muss es wissen, auch er war einst
beim KBW.
Von dort wechselten etwa Rein-
hard Bütikofer, Ralf Fücks und Win-
fried Kretschmann zu den Grünen
und machten da Karriere. Viele Linke
dieser Zeit lehnten nicht Waffen ge-
nerell ab, sondern Waffen im Besitz
der Nato, insbesondere der USA.
Hubert Kleinert, einst hessischer
Landesvorsitzender, sagt: »Pazifis-
tisch waren die Grünen als Ganzes
nie. Ich zum Beispiel war nie der Auf-
fassung, auch in jungen Jahren nicht,
dass man Hitler mit weißen Fahnen
und warmen Worten hätte besiegen
können. Das führte immer wieder zu
Diskussionen mit den Gesinnungs-
pazifisten, die es bei uns natürlich
auch gab.«
Das waren weitgehend theore-
tische Diskussionen, bis 1989 die
Mauer fiel und die Weltordnung des
Kalten Krieges zerbrach. In Jugosla-
wien bekämpften sich bald Serben,
Kroaten, Bosnier auf grausame Wei-
se. Was sollte man tun: mit pazifis-
tisch sauberer Gesinnung zuschauen


Abgeordnete
Brugger: Personi­
fizierte Versöhnung
mit dem Militär

»Pazifistisch
waren die
Grünen als
Ganzes nie.«
Hubert Kleinert

oder versuchen, Waffengewalt mit
Waffengewalt zu beenden?
Die außenpolitische Expertin Ma-
rieluise Beck änderte damals ihre
Haltung. »Mit meinem Idealismus der
Kapitulation als besserer Lösung war
es 1993 vorbei, als ich in Bosnien lern-
te, dass sich nicht zu verteidigen zu
Terror, Massenvergewaltigung und
Vertreibung führen kann.«
Auch bei Kleinert setzte damals
ein Gesinnungswandel ein: »Ange-
sichts der Tragödie auf dem Balkan
stellte sich die Frage, ob man auf den
Einsatz militärischer Mittel verzich-
ten konnte. Ich weiß noch genau, dass
ich damals, Ende 1992, an einem
Abend mit Joschka Fischer zusam-
mengesessen habe. Ich sprach mich
für den Einsatz militärischer Mittel
aus, Daniel Cohn-Bendit hatte das
vorher schon getan. Da fuhr Fischer
mich an: Jetzt fängst du auch noch
an! Damals wollte er davon noch
nichts wissen. Dann folgte 1995 das
Massaker in Srebrenica. Danach rief
Fischer mich an und fragte: Was sagst
du jetzt? Ich sagte: Wir sind alle ent-
setzliche Feiglinge. Das sah er dann
auch so. Das war die eigentliche Wen-
de.« Jedenfalls aus der Sicht von
Kleinert.
Als die Grünen Ende 1998 eine
Koalition mit der SPD bildeten, stan-
den der designierte Bundeskanzler
Gerhard Schröder und der künftige
Außenminister Fischer bereits vor der
Frage, ob sie deutsche Soldaten in
einen Krieg schicken sollten.

Serbien bekämpfte den Wunsch
nach Unabhängigkeit im Kosovo mit
brutalen Mitteln, man sprach von
Völkermord. Die Nato war bereit ein-
zugreifen, um das Morden zu stoppen,
bekam dafür aber kein Mandat vom
Sicherheitsrat der Uno, weil die Rus-
sen dagegen waren. Schröder und
Fischer wurden vom damaligen US-
Präsidenten Bill Clinton gedrängt,
sich an einem Militäreinsatz zu be-
teiligen. Und stimmten zu.
Am 24. März 1999 sagte Schröder
in einer Fernsehansprache nach der
Tagesschau: »Liebe Mitbürgerinnen
und Mitbürger, heute Abend hat die
Nato mit Luftschlägen gegen militä-
rische Ziele in Jugoslawien begon-
nen.« Tornados der Luftwaffe waren
beteiligt. Die »New York Times«
schrieb zwei Tage später: »Ein halbes
Jahrhundert nach Hitler beteiligen
sich deutsche Jets an der Attacke.«
Der Bezug zum schlimmsten Teil
der deutschen Geschichte bestimmte
auch die Debatte der Grünen. Am


  1. Mai musste sich Fischer einer Son-
    derkonferenz der Bundesdelegierten
    seiner Partei in Bielefeld stellen. Ein
    kochender Saal, Wut und Hass. Fi-
    scher wurde als »Joschka Goebbels«
    beschimpft, ein Aktivist schleuderte
    ihm einen roten Farbbeutel gegen das
    rechte Ohr, das Trommelfell wurde
    verletzt.
    In seiner Rede rief der Außen-
    minister: »Ich stehe auf zwei Grund-
    sätzen: nie wieder Krieg, nie wieder
    Auschwitz, nie wieder Völkermord,
    nie wieder Faschismus! Beides gehört
    bei mir zusammen.«
    Bis dahin wurde der Holocaust als
    Begründung für deutschen Pazifis-
    mus zitiert, nun machte es Fischer
    umgekehrt: Auschwitz verpflichte
    die Deutschen, Gräuel auch mili-
    tärisch zu stoppen. Der Kriegsein-
    satz wurde humanitär begründet,
    das machte es manchen Grünen
    leichter zuzustimmen. Am Ende ei-
    nigte sich die Konferenz auf einen
    hochgradig verschwurbelten Be-
    schluss, aus dem jeder etwas für sich
    herauspicken konnte. Für Fischer
    war entscheidend: Er musste nicht
    vor den Kanzler treten und darum
    bitten, den Einsatz der Luftwaffe zu
    beenden.
    Die nächste Prüfung für die Grü-
    nen folgte zwei Jahre später, nachdem
    Islamisten entführte Flugzeuge in das
    World Trade Center in New York und
    das Pentagon in Washington, D. C.,
    gesteuert hatten.
    Die rot-grüne Bundesregierung
    wollte sich am folgenden Kampfein-
    satz gegen den internationalen Ter-
    rorismus und die Taliban in Afgha-


Dominik Butzmann / DER SPIEGEL
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