Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

TITEL


18 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.


Genug
getan?

Waffenlieferungen
der Bundesregierung
an die Ukraine,
Auswahl

100
Maschinengewehre
MG 3

500
Stinger-Flugabwehr-
raketen

900
Panzerfäuste

1000
Panzerabwehr-
richtminen

16 Millionen
Schuss Munition für
verschiedene
Handwaffentypen

50
Sanitäts-Unimogs

80
gepanzerte Gelände-
wagen

bis zu 50*
Flugabwehrkanonen-
panzer Gepard
* öffentlich
versprochen

Quelle:
SPIEGEL-Recherche

nistan beteiligen, aber die Mehrheit
dafür wackelte. Acht Mitglieder der
grünen Fraktion waren entschlossen,
der Bundeswehr kein Mandat zu er-
teilen, darunter Antje Vollmer, Hans-
Christian Ströbele und Steffi Lemke,
die heutige Bundesumweltministerin.
Wieder wurde heftig diskutiert,
wurde Fischer bei einer Bundes-
delegiertenkonferenz in Rostock auf
einem Transparent als »Kriegsver-
brecher« beschimpft.
Bundeskanzler Schröder entschied
sich, die Abstimmung über den
Kampfeinsatz in Afghanistan mit
einer Vertrauensfrage zu verknüpfen.
Einen Kanzlersturz wollten die ab-
trünnigen Grünen vermeiden, wes-
halb sie oberschlau entschieden, dass
nur vier der acht mit Nein stimmen
würden. Antje Vollmer sagte den
damals viel belachten Satz: »Mein Ja
ist ein Nein.«
Schröder blieb Kanzler, deutsche
Soldaten zogen mit den Amerikanern
in den Krieg. Und die Grünen waren
endgültig eine Partei des Regierungs-
pragmatismus geworden, der Real-
politik.
So kommt es, dass die Bundestags-
fraktion nun erstaunlich geschlossen
hinter dem Kurs steht, den die Spitze
vertritt, hinter den Waffenlieferungen.
Dabei stand noch im Wahlprogramm:
»Exporte von Waffen und Rüstungs-
gütern an Diktatoren, menschen-
rechtsverachtende Regime und in
Kriegsgebiete verbieten sich.« Damit
ist es vorbei, ohne dass es zum Auf-
stand gekommen wäre.
Das verwundert manche, die
schon bei den Schlachten der Vergan-
genheit dabei waren, etwa Angelika
Beer. Sie war verteidigungspolitische
Sprecherin der grünen Bundestags-
fraktion, während über den Kosovo-
einsatz gestritten wurde. Als Joschka
Fischer 1999 in Bielefeld den Farb-
beutel an den Kopf bekam, saß sie
zwei Plätze weiter. Über die heutigen
Grünen sagt sie: »Die lautstarke Fun-
damentalopposition von damals ist
einer absoluten Kritiklosigkeit gewi-
chen.«
Die Grünen hat sie schon lange
verlassen, 2009 wechselte sie zur
Piratenpartei. Wenn sie Fischer und
Habeck vergleicht, sieht sie klare Vor-
teile bei Habeck. Fischer habe seine
Politik nicht erklärt, sagte Beer. »Den
Farbbeutel hat er damals kassiert,
weil es von seiner Seite keine Bereit-
schaft zum Dialog gab.« Das mache
Habeck heute besser.
Wahrscheinlich trägt auch das
dazu bei, dass es in der Fraktion so
ruhig ist. Manche können es kaum
fassen.


»Ich bin überrascht über die Einig-
keit«, sagt jemand vom Realo-Flügel.
Es gebe zwar, sagt jemand vom linken
Flügel, einige wenige, die sich schwer-
täten – doch im Kern besteht derzeit
über die Flügel hinweg Konsens: Die
Ukraine muss sich verteidigen kön-
nen. Also braucht sie Waffen, auch
schwere.
Wenn es überhaupt etwas gebe,
erzählen Grüne, was derzeit wenigs-
tens ein bisschen umstritten ist, dann
sei es das Sondervermögen, mit dem
die Bundeswehr wieder zu einer
schlagkräftigen Armee gemacht wer-
den soll. Hier gibt es Sorgen und Be-
denken, hier fürchten manche eine
Aufrüstungsspirale. Aber auch diese
Skeptiker sind gerade nicht besonders
laut.
Bei der FDP sehen sie all das mit
Freude. »In den Koalitionsverhand-
lungen haben einige Grüne noch ein
Problem mit der Nato gehabt, jetzt
treten sie gemeinsam mit der FDP für
die Lieferung auch schwerer Waffen
ein«, sagt der neue Generalsekretär
Bijan Djir-Sarai. »Dieses Ankommen
in der außen- und sicherheitspoliti-
schen Realität begrüße ich.«
Ähnlich klingt Parteivize Johan-
nes Vogel. »Diese Haltung freut
mich«, sagt er über den Kurs des
grünen Regierungspartners. »Die ge-
samte politische Kultur in Deutsch-
land hatte die letzten Jahre hier
eine Schlagseite.« In Deutschland
habe es oft einen »vulgärpazifis-
tischen Ausdruckstanz« gegeben,
selbst wenn es nur darum ging, wie
man die Bundeswehr angemessen
ausrüsten könnte.
Früher wäre es Jürgen Trittin un-
angenehm gewesen, ausgerechnet
von der FDP gelobt zu werden. Trit-
tin, 67, gehört eigentlich zu denjeni-
gen, von denen man Widerstand
gegen die Waffenlieferungen erwartet
hätte. Der frühere Fraktionschef ist
mittlerweile außenpolitischer Spre-
cher der Grünen im Bundestag, er
gehört zum linken Flügel, und er hat
noch im Februar öffentlich erklärt,
warum Waffen für die Ukraine keine
gute Idee seien. Nun hat auch er sich
eingereiht. Warum?
Na ja, sagt Trittin, man habe ja ver-
sucht, Putin durch maximale politi-
sche und ökonomische Drohungen
abzuschrecken – aber das habe ihn
nicht abgehalten. Der Einmarsch
habe alles verändert, nun müsse man
die Ukraine stärken, und das gehe
nicht mehr anders als militärisch.
»Nur wenn die Ukraine nicht über-
rannt wird und in einer ordentlichen
Verhandlungsposition ist, kann es
eine Verhandlungslösung geben.«

Trittin sagt das, als hätte er nie et-
was anderes vertreten. Dann holt er
zur ganz großen Erklärung aus.
»Es gibt eine lange Tradition bei
den Grünen, sich gegen Unrecht zu
stellen«, sagt er. »Wir waren auch als
Einzige auf dem Maidan präsent.«
Als die Ukrainerinnen und Ukrainer
2014 ihren russlandnahen Präsiden-
ten aus dem Amt trieben, besuchten
Grüne die Demonstranten auf dem
Platz in Kiew. Und als 2016 Donald
Trump zum US-Präsidenten gewählt
wurde, traten die Menschen in Scha-
ren bei den Grünen ein.
Das ist nicht vergleichbar mit
einem Krieg, aber die Überzeugung,
stets für das Gute einzutreten, auf der
richtigen Seite zu stehen, ist Teil des
grünen Selbstverständnisses – das gilt
für den Klimawandel genauso wie für
die Geopolitik. Es führt oft zu einer
schwer erträglichen Selbstgerechtig-
keit, einem moralischen Sendungs-
bewusstsein. Und es macht die Partei
anfällig dafür, sich von Emotionen
leiten zu lassen.
Waffenlieferungen verbieten sich?
Der Satz stimme auch weiterhin, ar-
gumentieren sie jetzt bei den Grü-
nen – aber eben nicht, wenn alles so
auf der Hand liege wie in diesem Fall,
die Rollen des Angreifers und des
Opfers derart klar verteilt seien und
der Angreifer nicht bereit sei zu ver-
handeln.
Aber warum war das 2014 eigent-
lich anders, als der Islamische Staat
Teile des Irak und Syriens überrann-
te und eine Terrorherrschaft errich-
tete? Auch da waren Gut und Böse
eindeutig bestimmbar, trotzdem wa-
ren die Grünen dagegen, die Kurden
mit Waffen auszurüsten. Am Ende
geht es auch ihnen um die Sicherheit
Europas – und damit die eigene Si-
cherheit.
Aber gibt es nicht irgendwo in die-
ser einst lustvoll streitenden Partei
noch Menschen, die das anders se-
hen? Die der Meinung sind, dass die
Grünen ihre Grundsätze verraten, sie
zumindest missachten?
Münster, Mittwoch Abend, in ei-
nem Stadtteilhaus treffen sich die
Grünen zur Kreismitgliederversamm-
lung. Etwa 50 Menschen sind gekom-
men, die allgemeine Laune ist gut,
von gedämpfter Stimmung keine Spur.
Es geht, natürlich, auch um den Krieg,
um die Frage, ob man der Ukraine
mehr und schwere Waffen liefern soll-
te. Und auch hier finden die meisten:
ja, sollte man.
»Welchen Frieden haben wir, wenn
ein Land einfach vereinnahmt wer-
den darf? Das ist kein Frieden, in
dem ich leben will«, so drückt es die
Free download pdf