Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
TITEL

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 19

Neue Realität


ja

nein

58

32

S Cive y-Umfrag e vom 26. bis 28. April; B efragte: mehr als^5000 ;
die s tatistische Ungenauigk eit liegt bei bis zu 5,9 Prozent-
punkten; an 100 f ehlende Proz ent: »unentschieden«

»Haben Sie heute eine andere Haltung zum
Pazifismus (Ablehnung militärischer Gewalt)
als vor Russlands Angriff auf die Ukraine?«,
Ergebnis unter Anhängern der Grünen, in Prozent

Parteichef Nouripour im Bundestag am Donnerstag: Kein Aufruhr, keine Spaltung

Markus Feldenkirchen, Matthias Gebauer,
Kevin Hagen, Christoph Hickmann,
Dirk Kurbjuweit, Veit Medick, Laura Meyer,
Serafin Reiber, Jonas Schaible,
Christoph Schult, Marco Schulz, Christian Teevs,
Gerald Traufetter, Mascha Wolf n

Landtagskandidatin Dorothea Deppermann
aus.
Viele klingen hier ähnlich. Man wünschte
zwar, es hätte andere Wege gegeben, den
Krieg zu beenden, sehe aber, dass »Reden
ohne Taten am Ende keinen Frieden« bringe,
sagt ein Mitglied. Immer wieder gibt es an
diesem Abend Lob für Habeck, ein Neumit-
glied bezeichnet ihn als »Vorbild«.
Widerspruch? Gibt es in Münster nicht –
weshalb manche fast entschuldigend betonen,
dass es »sicher auch noch andere Meinungen
in der Partei« gebe. Nur, wo?
In Berlin zum Beispiel, wo der Altlinke
Hans-Christian Ströbele am Mittwoch einen
Tweet absetzt, der etwas stakkatoartig gerät,
dafür umso klarer in der Ausrichtung ist.
»Sind wir jetzt Kriegspartei«, fragt Ströbele,
ohne ein Fragezeichen zu setzen. Politiker
und Medien des »NATO-Dt.«, gemeint sein
dürfte »Nato-Deutschland«, hätten »Liefe-
rung von Panzern erzwungen«, schreibt Strö-
bele. Was sie denn so sicher mache, dass es
»keine Eskalation zum Weltkrieg« gebe?
»Schlimm« sei das.
Ströbele gehört zum Grünen-Kreisver-
band Friedrichshain-Kreuzberg, der als
stramm links gilt. Doch selbst hier scheint er
weitgehend allein zu stehen.
»Dieser Angriffskrieg ist ein krasser Völ-
kerrechtsverstoß. Jedes Land der Welt hat
das Recht, sich zu wehren«, sagt Philip Hier-
semenzel, Mitglied im Geschäftsführenden
Ausschuss des Kreisverbands. »Nachdem nun
alle diplomatischen Versuche gescheitert sind,
bleibt halt nicht viel anderes als Waffenliefe-
rungen.«
Sehen das selbst hier alle so? »Es sind
bestimmt nicht alle Leute innerhalb unserer
Bezirksgruppe meiner Meinung«, sagt Hier-
semenzel. »Aber von den Leuten, mit denen
ich rede, waren die meisten schon für die Lie-
ferung schwerer Waffen.«
Seine Kollegin Jenny Laube, ebenfalls Mit-
glied im Geschäftsführenden Ausschuss, sagt
es so: »Auch bei mir fand in den letzten Wo-
chen eine Evolution, ein Umdenken statt.«
Das heißt?
»Nachdem wir durch Diplomatie und wirt-
schaftliche Sanktionen versucht haben, einen
Stopp der Kriegshandlungen zu erreichen, ist
die Lieferung der schweren Waffen die nächs-
te Stufe der Unterstützung für die Ukraine.
Ich frage mich, welches andere, mildere Mit-
tel aktuell noch existieren soll.«
Für Baerbock, Habeck und die Grünen-
spitze sind das erfreuliche Töne. Es droht kein
Aufruhr, schon gar keine Spaltung, zu ein-
deutig ist das Meinungsbild. Die andere Fra-
ge ist, ob es auch für die politische Kultur
erfreulich ist.
Eher nicht.
Einer Demokratie tut es immer gut, wenn
es unter den gemäßigten Kräften eine Mei-
nungsvielfalt gibt, wenn Standpunkte, die
von der Mehrheitsmeinung abweichen, inner-
halb dieses gemäßigten Spektrums geäußert
werden – und nicht nur an den Rändern arti-


kuliert werden, von extremen Kräften. Das
gilt vor allem für die großen Fragen.
Die Union würde gern noch mehr und
schneller Waffen liefern, sie hat auch das Son-
dervermögen für die Bundeswehr mit Beifall
aufgenommen, sie fällt in diesen Fragen als
Opposition aus. Bleiben nur AfD und die
Linkspartei.
Die Linke allerdings wird gerade von Vor-
würfen sexueller Übergriffe erschüttert und
ist mit sich selbst beschäftigt. Außerdem heißt
ihr prominentestes Mitglied weiterhin Sahra
Wagenknecht, die auch in dieser Lage durch
außerordentlich viel Verständnis für Russland
auffällt. Eine seriöse Opposition gegen Waf-
fenlieferungen und Aufrüstung ist derzeit
nicht in Sicht.
Das kann politisch gefährlich werden, ge-
rade nach den vergangenen zwei Jahren der
Pandemie. Populisten und Verschwörungs-
ideologen haben die Zeit genutzt, um das Bild
eines Parteiensystems zu zeichnen, in dem
angeblich alle unter einer Decke steckten. Sie
werden die Einmütigkeit zu nutzen versuchen,
mit der sowohl die Waffenlieferungen als auch
die Milliarden für die Bundeswehr gerade
unterstützt werden. Seht her, so dürfte die
Erzählung lauten: Schon wieder sind sie alle
einer Meinung.

Am meisten Widerstand gibt es derzeit
noch in der SPD – ausgerechnet in der Kanz-
lerpartei. Wollen die Genossen Olaf Scholz
nicht weiter schwächen, müssen sie zumindest
einigermaßen geschlossen bleiben. Umso
wichtiger wäre wenigstens ein bisschen De-
batte bei den Grünen. Und tatsächlich, ganz
unten an der Basis regt sich noch etwas. Zum
Beispiel bei Claudia Laux aus Rheinland-Pfalz.
Sie sei Pazifistin, sagt Laux, und als solche
lehne sie das Sondervermögen für die Bun-
deswehr ab – ebenso wie das Nato-Ziel, zwei
Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Ver-
teidigung auszugeben. Sie will über beides
eine Urabstimmung. »Wir von der Basis wol-
len wissen, wie die Partei darüber denkt«,
sagt Laux. Gemeinsam mit einigen Mit-
streiterinnen und Mitstreitern will sie die
Urabstimmung durchsetzen.
Einer der Initiatoren dieses Vorhabens ist
Philipp Schmagold aus Schleswig-Holstein, ein
Mann, der auf Grünenparteitagen eine Art
Legende ist, wegen seiner ständigen Anträge.
Er sagt: »Wir sollten die 100 Extra-Milliarden
nicht für die Rüstungsindustrie ausgeben, son-
dern brauchen das Geld für Klima- und Arten-
schutz, Energiewende, Soziales, Bildung, Ge-
sundheit und zivile Krisenprävention.«
Die Initiative sei flügelübergreifend, sagt
er, jeden Tag kämen neue Sympathisantinnen
und Sympathisanten dazu, am Donnerstag-
mittag hatten 1229 Mitglieder die Initiative
im »Grünen Netz« online unterstützt.
Damit es zur Urabstimmung kommt, müss-
ten knapp 6300 Mitglieder ihre Stimme ab-
geben. Zeit ist bis Mitte August.
Vielleicht ist doch noch etwas übrig von
den Grünen, die man mal kannte.

HC Plambeck
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