Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 21

überall in Deutschland für gleichwertige Le-
bensverhältnisse zu sorgen. Ich glaube, Olaf
Scholz hat auch ein großes Interesse daran,
dass wir als ein von Kohle und Stahl gepräg-
tes Land den Weg zu einer modernen Indus-
triegesellschaft mit erneuerbaren Energien
gut meistern. Der Bundeskanzler hat vom
Beginn eines sozialdemokratischen Jahr-
zehnts gesprochen. Wenn das Saarland mit
seiner besonderen Geschichte diesen kompli-
zierten Wandel unter einer SPD-Alleinregie-
rung gut hinbekommt, hätte das einen Bei-
spielcharakter für andere Regionen.
SPIEGEL: Olaf Scholz regiert in einer Dreier-
koalition und mit einem FDP-Finanzminis-
ter, der sich der Schuldenbremse ab 2023
wieder verpflichtet fühlt. Mit dem Geldaus-
geben auf Pump wäre dann erst mal wieder
Schluss.
Rehlinger: Es ergäbe für mich keinen Sinn, an
einer Schuldenbremse festzuhalten, wenn sie
zu einer Zukunfts- und Investitionsbremse
wird. Unter den aktuellen Bedingungen wie
Klimawandel, Pandemie und Ukrainekrise
müssen wir zumindest alle Möglichkeiten in-
nerhalb der Schuldenbremse ausloten, wieder
größere finanzielle Spielräume zu bekommen.
Aber auch das Konstrukt an sich ist ja nicht
die Bibel.
SPIEGEL: Agiert Olaf Scholz als Kanzler so,
wie Sie sich das vorgestellt haben? In der
Ukra inekrise wirkt er auf viele eher wie ein
Getriebener und nicht wie jemand, der die
bestellte Führung endlich liefert.
Rehlinger: Deutschland kann sehr froh sein,
dass Olaf Scholz diese Bundesregierung an-
führt. Es gehört nun einmal zu seinem Füh-
rungsstil, dass er sich erst um die Lösung
kümmert und danach um die Kommunikation.
Sich um die Kommunikation zu kümmern
und nicht um Lösungen wäre auch nicht sehr
klug – das sieht man an Friedrich Merz.
SPIEGEL: Das Zögern und Zerren um Waffen-
lieferungen an die Ukraine hat Risse in der
Ampelkoalition offenbart.
Rehlinger: Ich glaube, dass die Hauptverant-
wortlichen der Koalition gut abgestimmt sind
und sich an Vereinbarungen halten. Aber die
Ampel besteht eben nicht nur aus Olaf Scholz,
Annalena Baerbock, Robert Habeck und
Christian Lindner. Da wurde zum Teil eine
Vielstimmigkeit erzeugt, die dem Bild von
der Arbeit der Bundesregierung abträglich
war. Ich würde mir wünschen, dass sich alle
wieder mehr an ihren jeweiligen Spitzenleu-
ten orientieren.
SPIEGEL: Auch das Bild ihrer Parteifreundin
und Amtskollegin Manuela Schwesig hat ge-
litten. Ihr fällt auf die Füße, dass sie bis zum
Beginn des Ukrainekriegs mit aller Macht
an Putins Gaspipeline Nord Stream 2 fest-
gehalten hat.
Rehlinger: Mecklenburg-Vorpommern war in
einer besonderen Situation, und es ist nicht
fair, das an einer einzigen Partei oder einer
einzigen Person festzumachen. Das politische
Prinzip vom Wandel durch Handel ist kein
exklusiv sozialdemokratisches Phänomen.


Bei Putin hat es nicht funktioniert, das ist
mittlerweile allen klar.
SPIEGEL: Ex-Kanzler Schröder scheint das
Scheitern dieses Konzepts bei Putin bis heute
nicht klar zu sein.
Rehlinger: Schröders Aussagen sind bizarr.
Für mich ist es absolut unvereinbar, gleich-
zeitig auf der Gehaltsliste Putins und in der
Mitgliederliste der SPD zu stehen. Einem
Parteiausschluss kann er aus meiner Sicht nur
noch durch einen Austritt zuvorkommen.
SPIEGEL: War Ihr Wahlsieg bei der Saarland-
Wahl im März eigentlich ein Ausreißer oder
Zeichen eines Trends?
Rehlinger: Wir wären natürlich gern Trend-
setter. Aber bei ehrlicher Betrachtung muss
man sagen: Es müssen einige Dinge zusam-
menkommen für ein solches Ergebnis. Wir
haben als Saar-SPD eine eigene Stärke, lie-
gen meist bis zu zehn Prozentpunkte über
dem Bund. Aber man braucht auch ein ver-
nünftiges bundespolitisches Umfeld. Wenn
die SPD bundesweit bei 15 Prozent gestan-
den hätte, wäre es unmöglich gewesen.
Außerdem lief es bei unserer politischen
Konkurrenz nicht rund. Wir haben letztlich
etwa 17 000 Stimmen von den Linken be-
kommen und 33 000 von der CDU. Ansons-
ten kann ich nur empfehlen, sich auf wenige,
gut gewählte Themen zu konzentrieren, und
dann in einer klaren Sprache darüber reden.
Am besten in verständlichen deutschen
Hauptsätzen.
SPIEGEL: Welches Thema war das bei Ihnen?
Rehlinger: Hauptsächlich die Zukunft und der
Erhalt von Arbeitsplätzen. Das ist existenziell
für sehr viele Menschen hier.
SPIEGEL: Können Sie den Beschäftigten in der
energiefressenden Stahl- und Autoindustrie
da guten Gewissens Hoffnung machen?
Rehlinger: Wir werden natürlich neue Arbeits-
plätze brauchen, in der Forschung, in der In-

formationstechnik, mit neuen Ansiedlungen.
Da tut sich schon einiges. Und in den Kern-
industrien müssen wir Arbeitsplätze erhalten.
Ich bin überzeugt, dass wir auch unter den
Bedingungen von Klimakrise und dem Aus-
stieg aus fossiler Energie zu wettbewerbs-
fähigen Bedingungen Stahl und Autos pro-
duzieren können. Der Schlüssel dafür ist
Wasserstoff, der aus erneuerbaren Energien
hergestellt wird. Für grünen Stahl brauchen
wir grüne Energie.
SPIEGEL: Wo kommt so viel grüne Energie
her? Der Energiebedarf in der Stahlerzeugung
ist riesig.
Rehlinger: Wir werden einiges davon selbst
produzieren können. Aber es ist klar, dass
das nicht ausreichen wird, selbst wenn wir
die Erneuerbaren massiv ausbauen. Deshalb
müssen wir alles daransetzen, Teil eines künf-
tigen europäischen Wasserstoff-Transport-
netzes zu werden, mit dem Wasserstoff aus
südeuropäischen Fotovoltaikanlagen durch
unser Bundesland geleitet wird. Im deutsch-
französischen Grenzgebiet gibt es ein altes
Gasnetz, das dafür nutzbar wäre.
SPIEGEL: In Ihrem Wahlprogramm haben Sie
den Frauen die Hälfte der Macht verspro-
chen. Es fällt auf, dass Sie dann für Ihre Re-
gierung zwei Ministerinnen, aber vier Mi-
nister ernannt haben. Auf Staatssekretärs-
ebene gibt es fünf Männer und zwei Frauen.
Ist Parität bei Führungspositionen doch nicht
so wichtig?
Rehlinger: Moment, mit mir als Ministerprä-
sidentin sind wir drei Frauen und vier Männer
auf den Spitzenpositionen der Landesregie-
rung. Und vergessen Sie nicht, dass es im saar-
ländischen Landtag zum ersten Mal eine Par-
lamentspräsidentin gibt und in der SPD-Frak-
tion die Frauen in der Mehrheit sind. Am
Ende geht es um das Gesamtbild, da sehen
wir, glaube ich, nicht so schlecht aus.
SPIEGEL: Das Saarland hat weniger Einwoh-
ner als Köln, aber einen eigenen Landtag,
eigene Ministerien, ein eigenes Schulsystem,
ein eigenes Landeskriminalamt. Lassen sich
diese Kosten noch rechtfertigen?
Rehlinger: Aber ja, und zwar nicht nur aus
historischen Gründen. Das Saarland war im-
mer Spielball wirtschaftlicher Interessen
zweier Staaten. Beide wollten unbedingt die
Kohle aus unserer Erde und haben dafür die
Grenzen immer wieder verschoben. Heute
sind wir ein Bindeglied zwischen Deutschland
und Frankreich, ein Symbol deutsch-franzö-
sischer Freundschaft. Außerdem haben wir
eben eine sehr spezifische Wirtschaftsstruktur,
die einer speziellen Interessenvertretung
bedarf.
SPIEGEL: Andere Länder haben zum Teil auch
sehr unterschiedlich strukturierte Regionen.
Die Möglichkeit einer Fusion zum Beispiel
mit Rheinland-Pfalz schließen Sie völlig aus?
Rehlinger: Ja, diese Fusionsdebatte ist völlig
überflüssig. Ein großes Land mit strukturell
hoch verschuldeten Kommunen steht nicht
besser da als ein kleines.
Interview: Matthias Bartsch n

»Ich würde mir wünschen,
dass sich alle wieder
mehr an ihren jeweiligen
Spitzenleuten orientieren.«

Absolute Mehrheit


Sitzverteilung im saarländischen Landtag

SQuelle: Landtag Saarland

CDU
19

SPD
29

AfD 3

insgesamt
51 Sitze
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