Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

DEUTSCHLAND


24 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


te sich, dass umfassende Reformen
schwer durchzusetzen sind.
Die Große Koalition wollte ein
weiteres Wachstum des Bundestags
verhindern, scheiterte aber vor allem
am Widerstand der CSU. Die Über-
größe des Parlaments liegt an soge-
nannten Überhang- und Ausgleichs-
mandaten. Erstere entstehen, wenn
eine Partei in einem Bundesland
mehr Direktmandate erzielt, als ihr
nach den Zweitstimmen zustehen
würden. Um das Zweitstimmenergeb-
nis nicht zu verzerren, erhalten die
anderen Parteien dafür mittlerweile
Ausgleichsmandate. Insbesondere die
CSU profitierte zuletzt von Über-
hangmandaten.
Die alte Regierung einigte sich le-
diglich darauf, dass nach der Wahl
2021 bis zu drei Überhangmandate
pro Partei nicht mehr ausgeglichen
wurden. »Es war ein schwieriger und
am Ende leider nur kleiner Kompro-
miss«, sagt die CDU-Politikerin Nina
Warken, die die Kommission gemein-
sam mit Fechner leitet.
126 Mandate soll die aktuelle Re-
gelung bei der vergangenen Bundes-
tagswahl immerhin eingespart haben.
Die Staatsrechtlerin Sophie Schön-
berger hält den Kompromiss dennoch
für fahrlässig. »Wäre das Wahlergeb-
nis ein bisschen anders ausgefallen,
hätten wir auch 900 Abgeordnete

haben können«, sagt sie. Schon jetzt
sei der Bundestag die größte demo-
kratisch gewählte Parlamentskammer
der Welt. »An einer weiteren Reform
geht kein Weg vorbei.«
Auch Nina Warken dringt auf
grundlegende Änderungen, dieses
Mal dürfe man keine Option aus-
schließen. »Wir müssen eine Redu-
zierung der Wahlkreisanzahl genauso
in Betracht ziehen wie die Möglich-
keit, dass Direktmandate und Zweit-
stimmen zukünftig nicht mehr ver-
rechnet werden.«
Obwohl alle Seiten die Größe des
Parlaments für problematisch halten,
gab es offenbar schon vor Beginn der
Kommissionsarbeit Streit darüber,
wann man sich des Themas annimmt.
Die Union plädierte für sofort. Die
Abgeordneten der Ampel setzten
stattdessen das Wahlalter auf die Ta-
gesordnung der ersten inhaltlichen
Sitzung. Das sei weniger komplex
und daher besser als Einstieg geeig-
net, heißt es. Doch auch das Wahl-
recht ab 16 Jahren ist nicht leicht um-
zusetzen. Der Bundestag müsste da-
für das Grundgesetz ändern, mit einer
Zweidrittelmehrheit. Die Ampel-
koalition braucht daher Stimmen aus
der Opposition, die Union will aber
nicht mitziehen. »Wir sehen beim
Wahlalter keinen Handlungsbedarf«,
sagt Warken.
Ähnlich schwierig könnte es wer-
den, »verfassungskonforme Vorschlä-
ge« für mehr Frauen im Parlament
zu machen. Sowohl Brandenburg
als auch Thüringen hatten Gesetze
verabschiedet, die eine paritätische
Besetzung von Listen für Landtags-
wahlen vorschrieben. Beide wurden
später von den Landesverfassungs-
gerichten gekippt, weil sie gegen das
Gebot der freien Wahl verstießen.
»Es ist offen, ob der Gesetzgeber hier
überhaupt etwas tun kann oder ob
das nicht eher in der Verantwortung
der Parteien liegt«, erklärt Warken.
Viel Zeit, um solche Probleme zu
lösen, bleibt der Kommission nicht.
Schon im Sommer soll sie einen Be-
richt vorlegen, vor allem mit Vorschlä-
gen für eine Schrumpfkur. »Wenn wir
keine grundlegende Reform des Wahl-
rechts mit einer Verkleinerung des
Bundestags erreichen, wäre das eine
echte Blamage für das Parlament«,
sagt Fechner.
Schon aus praktischen Gründen
sollte sich etwas ändern: Der »Luisen-
block« ist nur auf eine Nutzung für
15 Jahre angelegt. Dann brauchen
die Abgeordneten entweder eine
neue Bleibe – oder ihre Zahl muss
kleiner werden.

I


m Berliner Regierungsviertel, di-
rekt an der Spree, wurde vor Kur-
zem ein Gebäude eingeweiht, das
Lösung und Symbol eines Problems
zugleich ist. »Luisenblock West«
heißt der bunte Neubau offiziell,
Spötter sprechen vom »Legohaus«.
400 zusätzliche Büros für Abgeord-
nete und deren Mitarbeiter wurden
dort in 15 Monaten errichtet. Die ers-
ten Parlamentarier sind eingezogen,
als Begrüßungsgeschenk gab es Topf-
pflanzen von Bundestagsvizepräsi-
dent Wolfgang Kubicki (FDP).
Der Neubau soll den Platzmangel
des Parlaments beheben. Seit Jahren
wächst der Bundestag, 736 Abgeord-
nete sind es seit der Wahl im Septem-
ber 2021, ein neuer Rekord, 138 mehr
als eigentlich vorgesehen. Der Bund
der Steuerzahler kritisiert, dass da-
durch Mehrkosten von 410 Millionen
Euro bis zum Ende der Legislatur-
periode entstehen.
Die Ampelkoalition will dem
Wachstum ein Ende setzen. Eine
Kommission aus Abgeordneten und
Sachverständigen soll dafür mög-
lichst schnell das Wahlrecht reformie-
ren. Sie will überdies »verfassungs-
konforme Vorschläge« erarbeiten,
»wie eine gleichberechtigte Reprä-
sentanz von Frauen und Männern im
Bundestag erreicht werden kann«.
Weitere Themen: Soll man das Wahl-
alter auf 16 Jahre senken, die Amts-
zeit für Kanzler begrenzen und die
Legislaturperiode auf fünf Jahre ver-
längern? Falls sich die Kommission
auf all das einigt, könnte sie die größ-
te deutsche Wahlrechtsreform seit
Jahrzehnten anstoßen. Die Aussich-
ten sind allerdings nicht gut.
Über die Ziele sei man sich weit-
gehend einig, sagt einer der beiden
Vorsitzenden, Johannes Fechner
(SPD). »Es geht weniger um das Ob,
sondern um das Wie.« Doch Wahl-
rechtsreformen sind eine heikle An-
gelegenheit. Sie können Machtver-
hältnisse in Parlament und Regierung
nachhaltig verändern. Schon in der
vergangenen Legislaturperiode zeig- Sophie Garbe, Laura Meyer n


Koloss im Legohaus


BUNDESTAG Deutschland hat die größte demokratisch gewählte


Parlamentskammer der Welt, ein teurer Spaß. Nun soll


sie kleiner und weiblicher werden. Doch die Sache ist vertrackt.


CDU-Abgeordnete
Warken

Neubau »Luisenblock West«

138
Sitze

mehr als
vorgesehen
hat das
Parlament.

Jan Bitter

snapshot / Future Image / F. Kern / SZ Photo
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