DEUTSCHLAND
34 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022
W
ie es ihm geht? »Beschissen«, sagt
er. Das war im Januar, der Krieg hat
te noch nicht begonnen. Die Ge
sundheit? Michael Müller schüttelt den Kopf.
Wie immer hat er eine Tüte mit Schriften
und Büchern dabei. Die stellt er auf den
Boden, setzt sich und schaut verdrossen. »Ich
mache mir große Sorgen«, sagt er. »Die ha
ben nicht verstanden, worum es wirklich
geht.« Die Regierung? Er nickt. »Ich bin
verzweifelt.«
Er ist nicht Michael Müller aus Berlin. Man
muss das immer betonen, wenn man über ihn
spricht. Ach, der frühere Bürgermeister, sagen
die Leute. Nein, der nicht. Michael Müller aus
Düsseldorf, auch Mitglied der SPD, auch Poli
tiker, von 1983 bis 2009 Mitglied des Bundes
tags, davon die letzten vier Jahre Parlamen
tarischer Staatssekretär im Umweltminis
terium. Seit vielen Jahren ist er Chef des
Umweltverbands Naturfreunde.
Ein Mann, den man nicht mehr kennt, der
andere Michael Müller, die Nummer zwei.
Das ist schon die halbe Geschichte. Die an
dere Hälfte: Es geht ihm schlecht. Es geht ihm
immerzu schlecht. Und hier wird die Ge
schichte groß, wächst über Michael Müller
hinaus: Es geht ihm schlecht, weil es der Erde
schlecht geht.
Als er 2009 aus dem Bundestag flog, be
schrieb er seinen Gemütszustand mit den
Worten, er sei »besoffen von der Traurigkeit«.
Die »Frankfurter Rundschau« fragte Müller,
wie es ihm gehe: »Beschissen«, sagte er.So ist es geblieben. Es gab über die Jahre
viele, viele Treffen mit Michael Müller, er
war nie fröhlich, er hat nicht einmal gelacht.
Er war immer bedrückt, immer, besser kann
man es nicht ausdrücken, besoffen von der
Traurigkeit.
Sucht man ein Antlitz, das das Leid der
Erde in Zeiten des Klimawandels verkörpert:
Hier ist es. Müller sitzt jetzt im Restaurant
Louis Laurent in Berlin, säbelt an einem Steak
und macht niedergeschlagen die Rechnung
auf, die er immer aufmacht: Derzeit seien
417 ppm CO 2 in der Luft (Teile pro Million
Luftanteile). Bei 420 ppm seien 1,5 Grad Erd
erwärmung erreicht, und das werde un
vermeidlich 2024 geschehen. 1,5 Grad ist die
Schwelle, die nach dem Pariser Klimaabkom»Wie geht’s, Herr Müller?« – »Beschissen«
KARRIEREN Der Sozialdemokrat Michael Müller hat über Jahrzehnte gegen den Klimawandel und für
den Frieden gekämpft. Sein Leben ist die Geschichte eines ewigen Scheiterns. Von Dirk Kurbjuweit
Umweltpolitiker Müller: Vor allem die Wohlhabenden und Reichen sollen verzichten
Andreas Chudowski / DER SPIEGEL