Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 35

men nicht überschritten werden darf, will man
große Katastrophen vermeiden. Das sind die
Zahlen, die Müller ins Gesicht geschrieben
sind, die ihn fertigmachen.
Er identifiziert sich wie kaum ein Zweiter
mit diesem Planeten. Über Jahrzehnte hat er
alles, wirklich alles versucht, um die Kata-
strophen zu verhindern. Seine Geschichte ist
die Geschichte einer gescheiterten Klimapoli-
tik. Zweimal hat er hoffen dürfen, dass die
deutsche Politik die Wende schafft, 1990 und



  1. Zweimal kam etwas dazwischen.
    Kann sein, dass dies gerade zum dritten
    Mal passiert. Nicht dass Müller viel von der
    Klimapolitik der neuen Koalition hält, aber
    immerhin hat sie sich mehr vorgenommen als
    die Regierungen davor. Doch dann hat Wla-
    dimir Putin die Ukraine angegriffen. Der
    Krieg diktiert jetzt das Programm, der Green
    Deal der Europäischen Union könnte eines
    seiner Opfer werden. Wenn Müller nicht
    schon maximal verzweifelt wäre, würde er
    noch mehr verzweifeln.
    In den vergangenen Wochen hat er bei
    einigen Friedensdemonstrationen geredet.
    Frieden ist auch ein Thema von ihm. Er hat
    das immer zusammengedacht: Der Klima-
    wandel könnte Kriege auslösen, deshalb muss
    sich die Welt eine Friedensordnung geben.
    Putins Krieg hat mit dem Klima nichts zu tun,
    aber der Angriff auf die Ukraine belegt, dass
    es nicht gelungen ist, eine stabile Friedens-
    ordnung zu finden.


Die Welt wäre womöglich in einem besseren
Zustand, hätte man früh auf Michael Müller
und andere gehört. Warum das nicht gesche-
hen ist, erzählt auch etwas über Politik.
Müller wurde am 10. Juli 1948 in Bernburg
(Saale) geboren, in der sowjetischen Besat-
zungszone. Nach dem gescheiterten Aufstand
vom 17. Juni 1953 floh seine Familie in die
Bundesrepublik und landete in Düsseldorf.
Er spielte »wie verrückt« Fußball auf den
Rheinwiesen, rannte den Rhein entlang, um
Kondition zu tanken, mit früher Besessen-
heit, bis sich seine Läufe auf 30 Kilometer
dehnten.
Im Jahr 1965 forderte seine Schulklasse von
ihrem Lehrer, das Theaterstück »Der Stellver-
treter« von Rolf Hochhuth zu behandeln, eine
Kritik an Papst Pius XII., der die katholische
Kirche nicht gegen Adolf Hitler positioniert
hatte. Der Lehrer fand das Stück untauglich
für seinen Unterricht, worauf die Schüler pro-
testierten, Streiks, Sit-ins. »So fing das an«,
sagt Müller.
Ein Jahr später wurde er Mitglied der Jusos
und damit der SPD. Dann kam »68«, Müller
protestierte gegen den Springer-Konzern, be-
teiligte sich aber nicht an der Gewalt. »Steine
waren nie mein Punkt«, sagt er.
Müller machte eine Lehre als Stahlbeton-
bauer, holte auf dem zweiten Bildungsweg
das Abitur nach und machte einen Hochschul-
abschluss als Diplom-Betriebswirt. Daneben
stieg er bei den Jusos auf, zog in den Bundes-
vorstand ein. Dort traf er auf einen jungen


Mann aus Niedersachsen, Gerhard Schröder,
der zu den theoretischen Diskussionen der
Jusos wenig habe beitragen können, aber ein
guter Vermittler gewesen sei, erinnert sich
Müller.
Schröder habe ihm eine SMS geschickt,
sagt er unvermittelt im Louis Laurent. Der
Altkanzler, Lobbyist für russische Konzerne
und Freund Putins, hatte kurz zuvor von
ukrainischem »Säbelrasseln« fabuliert und
damit Empörung ausgelöst. Müllers Eindruck:
Schröder finde diese Aussage selbst nicht
mehr so toll.
Bis Mitte der Siebzigerjahre hat sich Müller
kaum für Umweltfragen interessiert. Dann fing
es an, nicht über ein Schlüsselerlebnis, sondern
schleichend, über Lektüre. »Bei mir kommen
die Haltungen nicht hierher«, sagt er und zeigt
auf seinen Bauch, »sondern hierher«, der Fin-
ger fliegt hoch, tippt an die Schläfe.
Er engagierte sich in der Friedens- und
Anti-AKW-Bewegung, die damals eng ver-
zahnt waren, weil dieselbe Angst sie einte:
vor dem Atomtod. Müller hatte aber damals
schon verstanden, dass noch eine andere
Gefahr droht, der Klimawandel.
1983 zog er in den Bundestag ein, auch mit
dem Programm eines deutschlandweiten
Fahrradwegenetzes. Das habe in der SPD-
Fraktion »Lachsalven ausgelöst«, sagt Müller.
Bald sei ihm der Spottname »Fahrrad-Müller«
angehängt worden.
Hier deutete sich das Problem an, das
Müller seine gesamte Karriere hindurch be-
gleiten sollte. Er galt bald als Spezialist für
Umweltfragen, und der Spezialist ist in der
Politik bei allem Respekt vor seiner Kompe-
tenz verdächtig: als nerdig, als weltfremd, als
abgehoben.
Ihm fällt etwas ein. Es ist nicht leicht, mit
Müller in der Chronologie zu bleiben. Es gibt
so viel in der Gegenwart, das ihn wütend
macht. Das bricht immer wieder durch.

Wenn er vor dem Fernseher sitzt, erzählt
er, taucht dort manchmal eine Werbung von
Audi auf. Ein neuer Sportwagen wird als nach-
haltig gepriesen. Er hat zwar einen Elektro-
antrieb, verbraucht aber für die Herstellung
viele Ressourcen. Und er hat bis zu rund
600 PS. Müller sieht eine Werbung, die sug-
geriert, dass man auf nichts verzichten muss.
»Mich macht das wahnsinnig«, sagt er.
In Müllers erster SPD-Bundestagsfraktion
saß bis 1986 auch Schröder, der sich nicht mit
einem Sachthema beschwerte, sondern Spe-
zialist für Machtfragen wurde. In der Politik
ist dies die erfolgsträchtigste Spezialisierung.
Auch Müller war Machtmensch, stellte aber
sein Sachthema über die Karriere.

Müller besuchte damals hin und wieder Willy
Brandt, der in Unkel in der Nähe von Bonn
lebte. Zu Tarnzwecken stand »Dr. Müller« an
der Klingel. Als Michael Müller das erwähnt,
huscht, selten genug, ein Lächeln über sein
Gesicht. Brandt habe ihm gesagt: »Du, ich
mache mir Sorgen.« In Umweltfragen würden
große Aufgaben warten, und er habe Zweifel,
ob die SPD das begreife.
In Müllers Augen hat sie es bis heute nicht
begriffen. Seit Karl Marx, sagt er, habe die
Linke auf Wachstum gesetzt. In Müllers
Philosophie liegt jedoch im Wachstum das
Unheil. Das ewige Mehr und Mehr, das dem
Planeten schade, nicht nur beim Klima, auch
beim Wasser, bei der Artenvielfalt. Er glaubt
nicht daran, dass neue Technologien die Pro-
bleme lösen werden oder dass man den Ver-
brauch wirksam über Preise regulieren kann.
Nur Verzicht könne helfen, vor allem bei den
Wohlhabenden und Reichen.
Ende der Achtzigerjahre öffnete sich für
Müllers Anliegen ein Fenster der Möglichkeit.
Der Bundestag setzte eine Enquetekommis-
sion zum Thema »Vorsorge zum Schutz der
Erdatmosphäre« ein. Vorsitzender war der
CDU-Abgeordnete Bernd Schmidbauer, ein
Vertrauter Helmut Kohls. Müller, der auch in
der Kommission saß, nahm das als Zeichen,
dass der Bundeskanzler das Thema endlich
ernst nahm.
Fieberhaft machte er sich an die Arbeit,
Studien, Theorien, Pläne, Visionen – seine
Welt. »Wir wussten damals alles, die ganze
Tragweite des Klimawandels war schon
beschrieben«, sagt Müller. Er wollte auch
persönlich etwas tun, verschrieb sich 1990
ein Verzichtsprogramm. Erstens: kein Flug
unter 800 Kilometern. Zweitens: nur an
einem Tag pro Woche Fleisch. Drittens:
höchstens einmal pro Woche baden. Viertens:
maximal 7500 Autokilometer im Jahr. Fünf-
tens: keine Chemie im Haushalt. 1000 Leute
schrieb er an mit der Bitte, seinem Plan zu
folgen.
50 haben ihm geantwortet. In jener Zeit
zog er durch Schulen und sprach mit den jun-
gen Menschen über den Klimawandel. Er traf
auf offene Ohren, bis er einen Vorschlag
machte: Sie sollten ihren Führerschein erst
mit 25 anstreben, das würde dem Klima schon

Der Plan: nur einmal in der
Woche baden, einmal
Fleisch essen, keine Kurz-
flüge, wenig Auto fahren,
keine Chemie im Haushalt.

Parteifreunde Müller, Müntefering 2002

Marc Darchinger
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