DEUTSCHLAND
36 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022
helfen. Keine gute Idee, fanden die Schüle
rinnen und Schüler, sagt Müller.
Im Oktober 1990 legte die Enquetekom
mission dem Bundestag einen fulminanten
Abschlussbericht zur Beratung vor. Wären
die Empfehlungen umgesetzt worden, sagt
Müller, lägen die Emissionen heute um
70 Prozent niedriger als 1990, nicht, wie nun
tatsächlich, um 40 Prozent. Die Bundesrepu
blik stünde sehr gut da. Das ständige Nach
bessern wäre nicht nötig, der ganze Klima
krampf vielleicht ausgeblieben.
Damit wäre die Welt nicht gerettet, das
weiß Müller natürlich auch. Aber Deutsch
land hätte den anderen gezeigt, wie es gehen
kann, und vielleicht wären die anderen die
sem Kurs gefolgt.
»70 Prozent«, sagt Müller, »stellen Sie sich
das einmal vor.« Was man sich dazu auch vor
stellen könnte: ein entspanntes Gesicht, ein
Lachen, einen fröhlichen Müller. Es sollte
nicht sein. Stattdessen wurde er zum Schmer
zensmann der deutschen Politik.
Was 1990 dazwischenkam, war die deut
sche Einheit, sagt Müller. Ein Grund zu großer
Freude, ohne Frage, auch für ihn. Doch Kohls
Fokus lag nun auf diesem Thema, und nach
einem kurzen Einheitsboom rutschte die
deutsche Wirtschaft in die Krise. Die Arbeits
losigkeit stieg, Deutschland galt als kranker
Mann Europas. Das war damals das Problem
der Gegenwart, die immer stärker in den Köp
fen wirkt als eine Zukunft, die man sich nur
vorstellen kann.
Badet Müller nur einmal in der Woche? Fünf
Jahre lang habe er sein Programm durch
gehalten, sagt er. Müller ist kein Asket, er isst
gern Fleisch, gönnt sich Weißweine aus Sizi
lien oder Sardinien, kurvt durch Berlin nicht
als FahrradMüller, sondern mit einem Mini,
blau mit weißem Dach. So trägt er bei zur
eigenen Traurigkeit. Verzicht ist schwer, Kon
sequenz kaum durchzuhalten, auch nicht für
den besten Freund der Erde.
1998 wurde ein alter Bekannter Müllers
Bundeskanzler einer rotgrünen Koalition,
Gerhard Schröder. Eine Chance? Nein. Schrö
der gefiel sich als Autokanzler, überließ die
Umweltpolitik den Grünen, ohne ihnen gro
ße Spielräume zuzugestehen, findet Müller.
Er war in dieser Zeit stellvertretender Frak
tionsvorsitzender der SPD und einer der
Sprecher der Parlamentarischen Linken. Die
deutsche Wirtschaftskrise war noch nicht aus
gestanden, Schröder reagierte mit der Agen
da 2010, ließ den Sozialstaat zum Teil zurück
bauen.
Müller musste die eigenen Leute von etwas
überzeugen, wovon er nicht überzeugt war.
Er zog das loyal durch, was ihm Kritik eintrug.
Manchen galt er als Anpasser. Immerhin
schrieb er in der »Zeit« einen Aufsatz, der
dazu aufrief, die Agenda um einen »Öko
Deal« zu ergänzen. Keine Chance.
Nachdem Schröder 2005 abgewählt war,
hoffte Müller auf das Amt des Umweltminis
ters in der Großen Koalition, die Angela Mer
kel gebildet hatte. Er war der natürliche Kan
didat dafür. Er wartete auf einen Anruf von
Franz Müntefering, damals Vorsitzender der
SPD. Er hoffte, endlich Macht zu ergattern,
um etwas für die Erde tun zu können.
Als der Anruf kam, ging es nicht um die
Erde. Es ging um einen Mann, der zu dieser
Zeit etwas aus der Spur geraten war, Sigmar
Gabriel. Müntefering habe ihm gesagt, erzählt
Müller, er müsse Gabriel einbinden, das
»Enfant terrible«.
Müntefering bestätigt das im Prinzip. »Ich
habe immer sehr viel von Müller als Politiker
und Mensch gehalten«, sagt er und rühmt
dessen Kopf, sieht aber Defizite bei der poli
tischen Taktik, bei den Emotionen. Da hat er
Gabriel mehr zugetraut. Müller wurde Parla
mentarischer Staatssekretär von Gabriel, der
sich für Umweltpolitik bis dahin eher wenig
interessiert hatte. Wie er sich da gefühlt hat?
»Scheiße.«
Doch plötzlich keimte neue Hoffnung. An
fang 2007 entdeckte die Bundeskanzlerin das
Klimathema für sich. Müller kannte sie aus
der Zeit, als sie Umweltministerin von Kohl
war. Damals hatte er sie hin und wieder in
Bonn zum Essen getroffen. Einmal sei zufäl
lig Kohl mit ein paar Leuten reingekommen,
erzählt Müller. Merkel sei freudig zu ihm
gegangen, mit ausgestreckter Hand, sei aber
ignoriert worden. Die beiden hatten Krach,
wenn Kohl Merkels Umweltpolitik zu forsch
wurde.
Als Bundeskanzlerin ließ sie sich 2007 von
furchterregenden Klimadaten beeindrucken
und wurde bald als Klimakanzlerin gefeiert.
Müller wollte in dieser Zeit nach Grönland
reisen, um sich über die traurige Lage der
Gletscher zu informieren. Diese Idee, sagt
Müller, landete bei Gabriel, der den Wert
solcher Bilder erkannte und schließlich
mit Merkel nach Grönland flog. Dort posier
ten beide in roten Anoraks vor weißen Glet
schern, ein unvergessliches Foto. Müller
wirkt immer noch säuerlich, wenn er da
von erzählt. Allerdings sind diese Erinne
rungen nicht unumstritten. Andere erinnern
sich anders.
Als 2008 die Finanzkrise ausbrach und
die Wirtschaft weltweit abstürzte, verlor
Merkel ihren Enthusiasmus für die Klima
politik. Wieder hieß es, das Leben in der
Gegenwart sei schwer genug, man könne
der Bevölkerung keine Belastungen im Sinne
der Zukunft zumuten. Als Klimakanzlerin
dankte Merkel ab, das Thema wurde wieder
eines von vielen.
Im Umweltministerium spielte Müller kei
ne Rolle. Gabriel verließ sich auf seinen be
amteten Staatssekretär Matthias Machnig,
der auch ein Auge auf die Interessen der In
dustrie hatte. Für Müller war er wie ein Feind.
Machnig äußert sich freundlicher: »Ich habe
den Michael als Vorausdenker sehr geschätzt.
Ideen und Ziele sind das eine. Die Möglich
keiten und die Bedingungen der fachlichen
und politischen Umsetzung müssen dabei
aber immer berücksichtigt und mitgedacht
werden.«
Machbarkeit und Umsetzbarkeit waren
Wörter, an denen Müllers Elan immer wieder
zerschellt ist. Anders gesagt: Demokratische
Politik braucht Mehrheiten. Und die Lobby
isten der Gegenwart sind meistens stärker als
jene der Zukunft.
Bei der Wahl 2009 setzten die Sozialdemo
kraten in NordrheinWestfalen den lästigen
Müller auf einen hinteren Listenplatz. So flog
er aus dem Bundestag. »Die SPD hat mich
Fahrraddemonstrant Müller (2. v. r.) 1995: »Lachsalven ausgelöst«
Wieder verpasst die neue
Regierung eine Chance.
»Das macht mich furchtbar
kaputt«, sagt Müller.
Privat