Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 37

DEUTSCHLAND

immer nur respektiert, nicht akzeptiert«, sagt
er. Die Umweltpolitik war für sie ein Neben-
thema, nicht das Zentrum. Aber ein Wechsel
zu den Grünen war und ist für Müller undenk-
bar. »Ich will keine mittelschichts orientierte
Politik machen.«
Was ihm blieb, war der Vorsitz bei den
Naturfreunden. In Deutschland haben sie der-
zeit rund 70 000 Mitglieder und sind ein weit-
gehend unbekannter Umweltverband. Mül-
lers Kampf für die Erde spielt sich nun in einer
kleinen Welt ab. Er schreibt unermüdlich,
Bücher, Aufsätze, die meistens in Fachpubli-
kationen erscheinen. Rund 1000 sollen es
inzwischen sein. Was er dem SPIEGEL anbot,
wurde meistens abgelehnt.
Er ist ein Mann der Theorie, ungeheuer
beschlagen, redet viel von der Frankfurter
Schule, von Theodor Adorno. Nicht jeder ver-
steht, was er meint. Müller ist nicht arrogant,
er hat eher das Problem, das Propheten natur-
gemäß haben: Was sie als ihr Wissen über die
Zukunft ansehen, halten andere für Glauben,
manche für Spinnerei. Und Beharrlichkeit
nervt.


So werden Spezialisten zu Außenseitern, nicht
nur in der Politik. Das prägt diese Menschen
mit den Jahren mehr und mehr. Aus Verbit-
terung kann in den Augen anderer Verschro-
benheit werden. Dunkelblaue Stepp jacke,
himbeerrote Hosen, aus der Ferne wirkt Mül-
ler manchmal wie ein in die Jahre gekomme-
ner Dandy, was er überhaupt nicht ist. Äußer-
lichkeiten sind ihm schnuppe.
Müller hat so viel Ablehnung erfahren,
dass er manchmal unsicher wirkt, wie er mit
seinem Gegenüber umgehen soll. Er wirbt,
er schmeichelt, manchmal scheint es, als lau-
erte er darauf, dass man endlich in seinen
Kampf einsteigt, dass man für das Wohl der
Erde kämpft.
Und jetzt kommt seine Pointe, sein gro-
ßer Punkt: Spezialist? Nein, das hält er für
einen gefährlichen Irrtum. Umweltpolitik
sei fatalerweise von Anfang an als ein
zusätzliches Politikfeld gesehen worden.
Statt sie zum Zentrum zu machen, zum Aus-
gangspunkt für alles. Er nennt das »die Ent-
bettung der Ökologie aus der Gesellschaft«.
So spricht er. Viele Menschen erreicht man
damit nicht.
Dass die Ampel die Klimapolitik auf meh-
rere Ministerien verteilt, sieht Müller als ein
Zeichen, dass man es nicht ernst meint. Ein
Ministerium mit einem Vetorecht für alle Fra-
gen, die den Klimawandel betreffen – nur das
könne helfen. Wieder ist eine Chance ver-
passt, findet Müller: »Das macht mich furcht-
bar kaputt.« Der Satz klingt übertrieben, aber
wahrscheinlich ist er es nicht.
Manchmal sitzt Müller vor seinem Com-
puter und starrt auf einer globalen Wetter-
karte auf die Ostseite des brasilianischen Re-
genwalds. Der Streifen wird allmählicher
violetter, wegen der hohen Temperaturen.
»Der Wald könnte austrocknen und vom CO 2 -
Speicher zum CO 2 -Spender werden«, sagt


Müller. Er sagt das so schmerzerfüllt, als ver-
trocknete seine eigene Haut.
Machen ihm denn die Fridays for Future
keine Hoffnung, junge Menschen, die das Kli-
mathema anscheinend so ernst nehmen wie
er selbst? »Dafür muss man wirklich dankbar
sein«, sagt er. Kurze Aufhellung in Müllers
Gesicht, gefolgt von prompter Verfinsterung.
Die Aktivistinnen und Aktivisten dächten zu
sehr an das eigene Leben, zu wenig an den
Planeten, sagt er.
Ein anderes Restaurant, das Jolesch in
Kreuzberg, auf dem Tisch Papiere und Bücher,
die er mitgebracht hat. Was hat Müller ge-
dacht, als Scholz ein Sondervermögen für die
Bundeswehr ankündigte? »Wieder 100 Mil-
liarden weniger für das Klima«, sagt er.
Es gab ja einen gewissen Schub für Müllers
Anliegen. Der Protest der jungen Leute, das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, dass
sich die Politik beim Klimathema mehr ins
Zeug legen muss, die Grünen in der Regie-
rung. Zu wenig für Müller, es ist ihm immer
zu wenig, aber immerhin kroch die Schnecke
in die richtige Richtung.
Der Krieg könnte sie stoppen. Könnte sie
andererseits ein bisschen anschubsen, weil ein
forcierter Ausbau bei den erneuerbaren Ener-
gien helfen würde, sich von der wirtschaftli-
chen Verstrickung mit Russland zu lösen. Das
ist die optimistische Variante, aber Optimis-
mus steht Müller nicht mehr zur Verfügung.
Die kommende Aufrüstung ist für ihn
der doppelte Horror. Sie nimmt der Klima-
politik Ressourcen und ist das Gegenteil von
dem, wofür er seit Jahrzehnten gekämpft hat:
Abrüstung ist sein zweites großes Thema.
Die Naturfreunde wird er gegen das Sonder-
vermögen für die Bundeswehr ankämpfen
lassen, er schreibt Texte für Zeitungen, auch
zusammen mit dem Historiker Peter Brandt,
einem Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers.
Müller ist Putin dreimal bei Regierungs-
konsultationen begegnet, als er Umwelt-
minister Gabriel vertrat. Die »Aufsteherei«
habe ihn gestört, sagt er. Fast alle hätten sich
erhoben, sobald Putin den Saal betrat. Müller
nicht, sagt Müller. Merkel habe ihn gefragt,
warum. Da wirke noch die Studentenbewe-
gung in ihm fort, will er ihr geantwortet
haben: keine Unterwürfigkeit.
Allerdings hat Müller beim Treffen im Louis
Laurent, also vor dem Krieg, kein kritisches
Wort gegenüber Putin verloren, obwohl der
seine Truppen schon in Stellung gebracht hat-
te. Er kritisierte stattdessen den amerikani-
schen Präsidenten Joe Biden, der die Situation
ausnutze, um die Nato globaler auszurichten,
gegen China. Nach Putins Angriff wirkt das
noch seltsamer als im Januar. Und ob Abrüs-
tung jemals das richtige Mittel gewesen wäre,
um Putins Aggressionen zu hemmen, darf be-
zweifelt werden. Propheten können irren.
Und manchmal liegen sie richtig. Franz
Müntefering denkt heute darüber nach, ob
es nicht besser gewesen wäre, dem Klima-
politiker Müller mehr Einfluss und Macht
zu überlassen. n

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