Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

DEUTSCHLAND


38 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


dem ein älterer Mann mit einer jun-
gen Frau Sex hatte. Die Pornodar-
stellerin sei nur von hinten zu sehen
gewesen, die Jungs behaupteten, es
handle sich um ihre Mitschülerin. »Es
hat nicht lange gedauert, und ihre
Brüder saßen bei mir im Zimmer und
wollten wissen, ob das wirklich ihre
Schwester ist«, sagt Şahin.
Sie sieht in den Übergriffen nicht
nur Machtspiele pubertierender Jungs,
sondern auch eine Form von religiösem
Mobbing. Denn: »Mädchen, die Kopf-
tuch tragen, werden in Ruhe gelassen«,
sagt sie. In diesen Tagen empfindet sie
die Stimmung an ihrer Schule als be-
sonders angespannt. Bis 1. Mai ist Ra-
madan, der islamische Fastenmonat.
»Da spielt Religion auf dem Pausenhof
eine große Rolle«, sagt sie. »Bei uns
trauen sich nur wenige Schüler, offen
einen Schluck Wasser zu trinken oder
etwas zu essen. Es gibt da einen extre-
men Rechtfertigungsdruck.«
Die Pädagogin sagt, sie wünsche
sich, dass die Politik »endlich aufhört,
die Augen vor dem Problem zu ver-
schließen«. Sie ist nicht die Einzige.
»In den vergangenen Jahren haben
uns immer wieder Hilferufe aus Bil-
dungseinrichtungen erreicht«, sagt
die Neuköllner Integrationsbeauf-
tragte Güner Balci. »Ich nehme das
Thema sehr ernst.«
Balci und Bezirksbürgermeister
Martin Hikel (SPD) wollten deshalb
2022 für Betroffene »eine Anlauf- und
Dokumentationsstelle konfrontative
Religionsbekundung« schaffen, wie
religiös gefärbtes Mobbing in der
Fachsprache heißt. Die Einrichtung
soll Fälle statistisch erfassen und den
Schulen dabei helfen, diese aufzu-
arbeiten. Doch der Plan scheiterte.
Es gibt kein öffentliches Geld mehr
für das Projekt, das der Berliner Ver-
ein für Demokratie und Vielfalt
(Devi) umsetzen sollte, der seit Jah-
ren in der Extremismusprävention
tätig ist, vor allem gegen rechts. Im
rot-rot-grünen Senat ist die Haltung
zu dem Projekt bei vielen skeptisch
bis ablehnend. Die Bildungsverwal-
tung will nun erst einmal selbst »eine
fundierte wissenschaftliche Studie zu

S


ie ist Sozialarbeiterin und
macht sich Sorgen um die Mäd-
chen an ihrer Schule. Um jene,
die kein Kopftuch tragen wollen, die
sich gern auffällig schminken, die
kurze Röcke lieben oder enge Hosen.
Bei einigen Jungs sei es gerade in
Mode, Schülerinnen, die ihrer Mei-
nung nach zu freizügig gekleidet
seien, zu filmen, sagt sie. Die Handy-
videos würden dann auf sozialen
Netzwerken gepostet, um die Betrof-
fenen zu beschämen.
Aynur Şahin arbeitet an einer
weiterführenden Schule in Berlin-
Neukölln. Sie will nur offen sprechen,


wenn ihr echter Name nicht genannt
wird. Şahin trägt Jeans und einen
grauen Pullover, ihre langen braunen
Haare fallen über die Schultern.
Mehr als 90 Prozent ihrer Schüle-
rinnen und Schüler haben eine Mi-
grationsgeschichte, die meisten von
ihnen sind sunnitische Muslime und
haben einen türkischen oder arabi-
schen Hintergrund. Auch Şahins Fa-
milie stammt aus der Türkei.
»Ich finde die Situation zum Teil
unerträglich«, sagt sie. Besonders
mies sei kürzlich einer 16-Jährigen
mitgespielt worden. Klassenkamera-
den hätten einen Film verbreitet, in

Beschimpfungen im Ramadan


INTEGRATION Lehrkräfte in Berlin klagen immer wieder über religiöses Mobbing an Schulen. Bisher scheitert


die Politik daran, den Opfern zu helfen – auch weil die Debatte so ideologisch aufgeladen ist.


Puppen mit
Hidschab: Wie so
oft geht es auch
in dieser Debatte am
Ende ums Kopftuch

Anne Schönharting / OSTKREUZ
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