Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
DEUTSCHLAND

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 39

politisch und religiös motivierten
Konflikten an Schulen« in Berlin er­
stellen lassen. Wer den Auftrag um­
setzen soll, ist bisher unklar. Auch 120
Aktivisten, Wissenschaftlerinnen und
Pädagogen aus ganz Deutschland
protestierten Anfang des Jahres mit
ihren Unterschriften und einer Stel­
lungnahme gegen Hikels und Balcis
Vorstoß. Darunter Verbände wie das
Aktionsbündnis muslimischer Frauen
oder die Berliner Lehrergewerkschaft
GEW. Das Vorhaben weise »gravie­
rende konzeptionelle Schwächen auf«
und drohe, Konflikte an den Schulen
zu verschärfen, schreiben sie. Die
Fronten haben sich seitdem weiter
verhärtet.
Die Debatte hat die Mobbingopfer,
die es zweifelsohne gibt, längst aus
dem Blick verloren. Im Vordergrund
steht nun vielmehr ein politischer
Streit um die Frage, welche Rolle
Religion im Schulbetrieb spielen darf –
und darüber, wo die Trennlinie zwi­
schen berechtigter Sorge und antimus­
limischem Rassismus liegt. Der Kon­
flikt zeigt zudem, wie schwierig es in
einer Einwanderungsgesellschaft sein
kann, bei all den widersprüchlichen
In teressen überhaupt noch einen kon­
struktiven Umgang mit Problemen zu
finden – vor allem in einem sensiblen
Bereich wie der Bildungsarbeit.
Die Kritikerinnen und Kritiker hal­
ten eine Anlaufstelle für stigmatisie­
rend, da diese de facto in Neukölln
»ausschließlich muslimische Schü­
ler*innen« in den Blick nehme. Das
Projekt berge die Gefahr, »die Dis­
kriminierung einer bereits vielfach
abgelehnten religiösen Minderheit zu
befördern«, heißt es in der gemein­
samen Stellungnahme der Kritiker.
Auch Tobias Nolte, Lehrer am
Campus Rütli in Neukölln, hält die
Meldestelle für ein Projekt, das »eher
spaltet, als dass es Probleme lösen
könnte«. Der Pädagoge sitzt in einem
der Besprechungszimmer seiner
Schule. Der Unterricht ist zu Ende,
nur auf dem Hof stehen noch verein­
zelt Schülergrüppchen herum. In
kaum einem anderen Bezirk sind so
viele Minderjährige armutsgefährdet
wie in Neukölln.
Bei seinen Schülern seien manch­
mal »problematische Themen und
Haltungen erkennbar: Sexismus, Ho­
mo­Trans­Feindlichkeit, antisemiti­
sche Aussagen«, sagt Nolte. Die Ursa­
chen für Konflikte seien aber vielfäl­
tig. »Sie hängen unter anderem mit
Armut, schwierigen sozialen Verhält­
nissen, Diskriminierungserfahrungen,
Frustration, Bildungsungerechtigkeit
und toxischen Geschlechterbildern
zusammen.« Letzteres sei kein rein


muslimisches Problem. »Die Kids
dürfen Fehler machen und auch mal
Ansichten zum Ausdruck bringen, die
nicht klug sind«, sagt er. Sein Job als
Pädagoge sei es, zur Reflexion anzu­
regen, etwa durch seinen Kurs »Glau­
ben und Zweifeln«. In diesem Rah­
men spreche er mit den Schülerinnen
und Schülern beispielsweise darüber,
wie Galileo Galilei im 17. Jahrhundert
das katholische Weltbild infrage stell­
te, aber auch über problematische
Inhalte in salafistischen Predigten.
»Wichtig sind Gespräche auf Augen­
höhe und Nachfragen ohne Schaum
vor dem Mund.« Ansonsten habe man
keine Chance, überhaupt zu den Ju­
gendlichen durchzudringen, und er­
reiche nichts, sagt er.
Einen ähnlichen Ansatz haben
auch viele der Präventionsprojekte,
die es in Berlin schon gibt und die –
anders als das Devi­Projekt – finan­
ziell gefördert werden. Einer der an­
erkannten Träger ist Ufuq.de, der
Lehrkräfte berät und fortbildet. Der
Verein bietet auf seiner Internetseite
etwa ein illustriertes Kartenset mit
dem Titel »The Kids Are Alright« an.
In knapper Form erhalten Fachkräfte
»Vorschläge für den pädagogischen
Umgang mit schwierigen Positionen
und Verhaltensweisen von Jugend­
lichen im Kontext von Islam, Islamis­
mus und Islamfeindlichkeit«. Bei­
spielsweise in der Frage, wie eine Leh­
rerin am besten reagieren soll, wenn
ihr ein muslimischer Schüler den
Handschlag verweigert, weil sie eine
Frau ist. Die Empfehlung: »Bestärken
Sie nicht ›Wir und die Diskurse‹, in­
dem Sie über ›unsere‹ Werte und Ge­
bräuche sprechen.« Und: »Fragen Sie
die Jugendlichen, was ihnen an ihrer
Art der Begrüßung wichtig ist.«
Sozialarbeiterin Aynur Şahin kann
mit dieser Art der Pädagogik nicht
viel anfangen. Sie findet das Verhal­
ten mancher Jugendlichen an ihrer
Schule ganz und gar nicht in Ordnung

und will den Kids in diesem Fall auch
gar nicht vermitteln, sie seien »alright«.
Etwa wenn sie wieder einmal erlebe,
dass Schüler beschimpft würden, weil
sie es wagten, während des Rama­
dans ein Pausenbrot zu essen. Şahin
wünscht sich die umstrittene »Anlauf­
und Dokumentationsstelle konfron­
tative Religionsbekundung« auch
nicht, um Ratschläge für ihre Arbeit
zu bekommen. »Ich möchte, dass
endlich dokumentiert wird, was an
Schulen wie meiner los ist, damit al­
len klar wird, dass wir das Neutrali­
tätsgesetz brauchen«, sagt sie. Wie so
oft geht es auch in dieser Debatte am
Ende ums Kopftuch.
Das Berliner Neutralitätsgesetz
untersagt Pädagoginnen an öffent­
lichen Schulen, aber auch Richterin­
nen und Polizisten das Tragen reli­
giöser Symbole im Dienst: Kopftuch,
Kreuz oder Kippa. Das Bundes­
arbeitsgericht hatte im August 2020
einer angehenden Lehrerin, die we­
gen ihres Kopftuchs keinen Job an
einer öffentlichen Schule bekam,
mehr als 5000 Euro Entschädigung
zugesprochen. Seitdem streitet der
rot­rot­grüne Senat darüber, wie es
mit der Regelung weitergehen soll.
Nun liegt der Fall beim Bundesver­
fassungsgericht. Unbestritten ist,
dass Frauen mit Kopftuch vielfach
von Diskriminierung betroffen sind.
Laut einer Untersuchung des For­
schungsinstituts zur Zukunft der
Arbeit von 2016 müssen sie sich etwa
viermal so oft bewerben wie andere
Frauen, um überhaupt zu einem
Bewerbungsgespräch eingeladen zu
werden.
Pädagogin Şahin hingegen sagt,
ohne das Neutralitätsgesetz bekämen
Frauen ohne Kopftuch wie sie selbst
erhebliche Probleme bei der Arbeit.
»Meine Religion ist Privatsache«, sagt
sie. »In dem Moment, wo religiöse
Symbole an Schulen offiziell geduldet
werden, wird es bei Eltern und Schü­
lern Thema werden, warum ich selbst
kein Kopftuch trage.« Sie sehe schon
jetzt einen erheblichen Gruppen­
zwang unter den Mädchen, sich zu
verhüllen. »Kürzlich saß eine Schü­
lerin bei mir in der Sprechstunde und
erzählte mir ganz offen, dass sie sich
vor allem deshalb für den Hidschab
entschieden hat, weil die Jungs sie
sonst nicht schön finden würden.« Ist
das dann freiwillig?, fragt Şahin.
In Berlin ist das Bündnis jener, die
sich öffentlich für das Neutralitäts­
gesetz aussprechen, teils deckungs­
gleich mit den Befürwortern der »An­
lauf­ und Dokumentationsstelle kon­
frontative Religionsbekundung« von
Devi. Michael Hammerbacher, Leiter

Integrations-
beauftragte Balci

»Das Projekt
spaltet eher,
als dass
es Probleme
lösen könnte.«
Tobias Nolte, Lehrer
am Campus Rütli in
Neukölln

Campus Rütli in Neukölln
Sven Darmer / DAVIDS

Jesco Denzel / laif
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