Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

DEUTSCHLAND


40 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


des Vereins, ist federführender Akti­
vist bei der Initiative PRO Neutrali­
tätsgesetz Berlin. Die Gegner des
Projekts werfen ihm genau das vor.
Im Dezember hatte Devi eine »Be­
standsaufnahme konfrontative Reli­
gionsbekundung« veröffentlicht, die
den Bedarf für das Projekt unter­
mauern sollte. Dafür befragten Devi­
Mitarbeiter Pädagogen, Sozialarbei­
terinnen und Schulleiter an zehn
Neuköllner Schulen. Drei der Bildungs­
einrichtungen sprachen sich explizit
für das Neutralitätsgesetz aus. Etwa
die Hälfte der Schulen beschreibt eine
insgesamt schwierige Stimmung, in
der auch immer wieder religiöse Kon­
flikte hochkochten. Eine repräsenta­
tive Studie ist die Erhebung nicht.
Der Angang an die Thematik sei
unwissenschaftlich und wenig seriös,
bemängeln die Gegnerinnen und
Gegner des Vorhabens. So werde et­
wa nicht klar definiert, was genau als
»konfrontative Religionsbekundung«
zu werten sei. Stattdessen würde dies
der »subjektiven Wahrnehmung von
Lehrkräften überlassen«. Es dränge
sich »unweigerlich der Verdacht auf,
dass mit dem Projekt einer Registrier­
stelle schulische Konflikte politisch
instrumentalisiert werden sollen«,
heißt es im Protestschreiben. Ziel sei
es, Material für den anstehenden
Gang zum Bundesverfassungsgericht
zu sammeln, um vermeintlich bele­
gen zu können, dass der Schulfrieden
in Berlin – nicht nur in Einzelfällen,
sondern in der Regel – durch religiö­
se Konflikte gefährdet sei.


»Was spricht
dagegen,
eine Erhe-
bung zu
machen?«
Ronald Rahmig,
Schulleiter

Die Vermutung, dass die geplante
Anlaufstelle auch als politisches Instru­
ment genutzt werden soll, liegt tatsäch­
lich nahe. Aber ist sie deshalb gleich
»pädagogisch unverantwortlich«, wie
die Kritiker schreiben? Was denken
eigentlich jene über das Projekt, die
potenziell unter Mobbing an den Schu­
len leiden, die es also zu schützen gilt?
Ihre Stimmen müssten besonders viel
Gewicht haben. In der Debatte kom­
men sie jedoch kaum zu Wort.
Die Bestandsaufnahme von Devi
verweist auf eine in Neukölln beson­
ders betroffene Gruppe: alevitische
Kinder und Jugendliche. Das Aleviten­
tum ist eine Glaubensrichtung, in der
sich unterschiedliche religiöse Ein­
flüsse mischen und Naturnähe eine
große Rolle spielt. Sie ist stark beein­
flusst durch den Islam, anders als
Muslime beten Aleviten aber nicht in
Moscheen, sie fasten nicht im Rama­
dan und pilgern nicht nach Mekka.
Die meisten ihrer Anhängerinnen
und Anhänger stammen aus der Tür­
kei. In einem der Interviews heißt es,
dass manche der Schüler sogar ihre
kulturellen Wurzeln verleugneten,
um keinen Stress zu bekommen.
Für Özge Erdoğan, ehemalige Vor­
sitzende des Bundes der Alevitischen
Jugendlichen in Deutschland, ist das
wenig überraschend. »Wir bekom­
men im Verband immer wieder mit,
dass unsere Jugendlichen sich durch
eine bestimmte Gruppe muslimischer
Mitschüler*innen diskriminiert füh­
len«, sagt sie, »deshalb würden wir
es begrüßen, wenn es eine spezielle
Stelle gäbe, an die sie sich mit ihren
Problemen wenden können.« Natür­
lich müsse man noch über die richtige
Ausgestaltung sprechen. »Aber
grundsätzlich ist es doch gut, dass
Fälle von religiösem Mobbing doku­
mentiert werden können.« Es gebe ja
auch ähnliche Projekte, die sich mit
antimuslimischem Rassismus befass­
ten, sagt Erdoğan.
Das sieht der 26­jährige Student
Onur Işik vom Bund der Alevitischen
Jugendlichen in Berlin ähnlich, er
heißt in Wirklichkeit anders und
möchte seinen echten Namen nicht
nennen. »Ich halte nichts von einer
Opferkonkurrenz. Aber man kann
die alevitische Perspektive auch nicht
einfach ignorieren«, sagt er. Işik sitzt
an einem der Tische im Cemevi in
Kreuzberg. So heißen die Glaubens­
stätten der Alevitinnen und Aleviten.
In Berlin leben schätzungsweise
70 000 von ihnen.
Işik macht ehrenamtlich Jugend­
arbeit, spricht mit Schülerinnen und
Schülern über ihre Sorgen. Der Stu­
dent sagt, er kenne viele Geschichten

alevitischer Jugendlicher, die sich
etwa genötigt sähen, während des
Ramadans zu fasten, weil sie »keinen
Ärger mit muslimischen Schüler*in­
nen wollten«. Manche würden sogar
verheimlichen, dass sie alevitisch seien.
Er kenne das von seiner eigenen
Schulzeit. Hänseleien habe es immer
wieder gegeben. Er nennt ein Bei­
spiel: Unter manchen sunnitischen
Türkeistämmigen gebe es ein bösarti­
ges Gerücht. Es besage, dass in den
Cemevi Sexorgien stattfänden, so­
bald dort das Licht ausgehe. »Das ist
natürlich totaler Schwachsinn«, sagt
er. »Aber auf den Schulhöfen ist das
immer wieder Thema.«
Er selbst habe sogar einmal erlebt,
wie muslimische Mitschüler nach­
einander während des Deutschunter­
richts selbst verfasste Gedichte vortru­
gen, die sich allesamt mit den vermeint­
lichen Orgien der Aleviten befasst
hätten. »Dabei haben sie sich kaputt­
gelacht«, sagt Işik. »Auch der Lehrer
fand das witzig. Für mich war das aber
extrem verletzend, und ich hätte mir
gewünscht, dass ich mich an irgend­
eine Stelle hätte wenden können.«
Das Devi­Projekt kommt trotz­
dem über das Planungsstadium nicht
hinaus. Integrationsbeauftragte Gü­
ner Balci sagt, sie wolle weiter für das
Projekt kämpfen. Der Zuspruch, den
sie von vielen Lehrkräften bekomme,
bestärke sie. So schreibt etwa der
Schulleiter der Neuköllner Röntgen­
schule, Detlef Pawollek, in einer Stel­
lungnahme an den Bezirk: Er sehe es
als »das gute Recht einer jeden Schu­
le, Verhältnisse oder Veränderungen,
die sie nicht zu verantworten haben,
mit denen sie aber umgehen müssen,
einer phänomenologischen Betrach­
tung zu unterziehen und diese zu
sammeln und zu kommunizieren«.
Und weiter: »Wie stehen die zahlrei­
chen KritikerInnen zu der Frage, wa­
rum sich migrantische Lehrerinnen
während des Fastens von Schülern
auf ihren Kleidungsstil ansprechen
lassen müssen?« Wie wollten die Geg­
ner des Projekts den Schutz jener
Ethnien im Schulalltag garantieren,
»die sich quantitativ in der Minder­
heit befinden; durch Workshops«?
Auch Ronald Rahmig, Vorsitzen­
der der Vereinigung der Leitungen
berufsbildender Schulen in Berlin,
stellt sich hinter Balcis Pläne: »Ich
verstehe die ganze Aufregung nicht«,
sagt er. »Was spricht dagegen, eine
Erhebung zu machen? Wenn dabei
herauskommt, dass es ein flächen­
deckendes Problem mit religiösem
Mobbing gibt, müssen wir das ange­
hen. Und wenn nicht? Umso besser.«
Katrin Elger n

Alevitin Erdoğan in
Kölner Cemevi: Viele
verheimlichen ihre
Glaubensrichtung

Marcus Simaitis / DER SPIEGEL
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