Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

DEUTSCHLAND


42 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


Labudde, 55, ist Bioinformatiker und
leitet den Studiengang Allgemeine
und Digitale Forensik an der Hoch-
schule Mittweida in Sachsen. Er hat
an mehreren aufsehenerregenden Kri-
minalfällen als Gutachter gearbeitet.


SPIEGEL: Professor Labudde, wie wer-
den in einigen Jahren Morde aufge-
klärt?
Labudde: Mit modernen Kameras,
Drohnen, Daten und 3-D-Modellen.
Sanitäter könnten schon beim Ver-
lassen des Rettungswagens Scanka-
meras am Helm einschalten.
SPIEGEL: Und warum die Sanitäter,
die sollen doch helfen?
Labudde: Sie sind die Ersten, die den
Tatort verändern. Natürlich muss
zuerst den Opfern geholfen werden,
aber gleichzeitig lässt sich die Situa-
tion mit Kameras digital konservieren.
Die Ermittler könnten dann nachvoll-
ziehen, was die Ersthelfer vorgefun-
den haben.


»Tatanalyse wie im


Computerspiel«


KRIMINALITÄT Ermittlungen in der virtuellen Realität, Phantombilder


auf der Basis von DNA-Spuren: der sächsische Forensiker


Dirk Labudde über die modernsten Methoden der Verbrecherjagd


Forscher Labudde: Das ganze Areal mit Drohne und 3-D-Scanner abgelichtet


* Dirk Labudde: »Digitale Forensik. Die Zukunft
der Verbrechensaufklärung«. Lübbe; 240 Sei-
ten; 16,99 Euro.

SPIEGEL: Was lernen Staatsanwältin-
nen und Polizisten daraus?
Labudde: Sie kommen im Idealfall
schneller zu Ergebnissen. Nach dem
Fund einer Leiche überlegen Ermitt-
ler heute, aus welcher Richtung ein
Schuss gefallen, wohin der Täter ge-
flohen sein könnte. In einer digital
erschaffenen 3-D-Rekonstruktion
könnten sie mit Virtual-Reality-Bril-
len einen unberührten Tatort bege-
hen – und womöglich binnen Minu-
ten die entscheidenden Fußspuren
erkennen.
SPIEGEL: Wird diese Technik schon
irgendwo eingesetzt?
Labudde: Sie ist in Deutschland nicht
Standard, aber ich nutze sie regelmä-
ßig – etwa für die Arbeit der »Soko
Altfälle« in Thüringen. Gleich am An-
fang untersuchten wir den Tod der
zehnjährigen Stephanie aus Weimar,
diesen Fall schildere ich auch in mei-
nem aktuellen Buch, das ich mit der
Journalistin Heike Vowinkel geschrie-

ben habe*: Stephanie war im August
1991 nach dem Spielen nicht heim-
gekommen, zwei Tage später fand
man ihre Leiche unter einer Brücke.
Auch 25 Jahre später war nicht klar,
ob sie verunglückt war oder umge-
bracht wurde.
SPIEGEL: Wie sind Sie vorgegangen?
Labudde: Die Teufelstalbrücke wurde
1999 abgerissen und durch einen Neu-
bau ersetzt, deshalb mussten wir den
Tatort vollständig digital rekonstruie-
ren. Dazu speisten wir alle verfügba-
ren Daten in ein 3-D-Modell ein: den
Leichenfundort, die Körperhaltung
der Toten, die Beschaffenheit des Bo-
dens, sogar das Brückengeländer und
die Vegetation im Tal bildeten wir de-
tailgetreu nach. So konnten wir nach-
weisen, dass das Kind nicht versehent-
lich abgestürzt war. Wenig später gab
es eine Festnahme, der Tatverdächti-
ge gestand und wurde wegen Mordes
zu zehn Jahren Haft verurteilt.
SPIEGEL: Welches Material haben Sie
genutzt?
Labudde: Mein Team und ich haben
zunächst Hunderte Fotos der Brücke
gesammelt – in Museen, Archiven und
Zeitungen, fragten auch bei der Auto-
bahnmeisterei und bei Wanderverei-
nen nach. Der Durchbruch gelang uns,
als ein Mitarbeiter des Bauamts die
Baupläne von 1938 fand. Nun kannten
wir die genauen Maße der Brücke, das
Baumaterial und die Statik.
SPIEGEL: Hätte der Fall nicht schon
1991 gelöst werden können? Da stand
die Brücke noch, man hätte sie nicht
aufwendig rekonstruieren müssen.
Labudde: Da gab es aber nicht die
heutige Technik. Ein am Rechner ge-
neriertes 3-D-Modell ist mehr als eine
Kopie, es bietet Möglichkeiten der
Tatanalyse wie im Computerspiel.
SPIEGEL: Wie helfen diese Möglich-
keiten der Polizei?
Labudde: 1991 konnte man Verbre-
chen analog nachstellen, etwa mit
Schauspielern und einer Puppe. Aber
mit welcher Geschwindigkeit ein
menschlicher Körper bei bestimmten
Wetterverhältnissen in die Tiefe
stürzt und aufprallt, lässt sich nur am
Rechner präzise simulieren. Dort
kann man verschiedene Szenarien
durchspielen, sich alles aus verschie-
denen Perspektiven anschauen.
SPIEGEL: Zu den Fällen, an denen Sie
zuletzt beteiligt waren, zählt das Ver-
fahren gegen den Musiker Gil Ofarim,
der sich wegen eines angeblichen ju-
denfeindlichen Vorfalls in Leipzig an

Mordopfer Stephanie: (^) die Öffentlichkeit wandte und eine
»Auch 25 Jahre später
war nicht klar, ob
sie verunglückt war
oder umgebracht
wurde«
Thomas Victor / DER SPIEGEL
Landespolizeiinspektion Jena

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