Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

44 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


DEBATTE


nas gehofft. Vergebens. China braucht
Russland als Rohstofflieferanten und
gleich gesinnten, undemokratischen
und illiberalen Partner. Diese Unter-
stützung heute soll später Nibelun-
gentreue garantieren – wenn China
vielleicht nach Taiwan greift. Wie
Putin in Russland führt Xi Jinping
China als einen totalitären Staat. An-
ders als in Russland würde eine signi-
fikante Abnahme des Wohlstands
zum Aufbegehren der chinesischen
Mittelschicht führen, nach außen er-
hebt China den Anspruch auf eine
Ablösung der USA als globale Füh-
rungsmacht. China braucht Deutsch-
land für seinen Wohlstand. Dies ist
eine Stärke Deutschlands, auf der
man aufbauen kann.
Die wirtschaftlichen Verflechtun-
gen mit China sind tief. Auch wenn
die Pandemie gelehrt hat, dass Euro-
pa sich möglicherweise zu stark ab-
hängig gemacht hat, wird es unmög-
lich sein, diese Vernetzung absehbar
zu kappen. China ist ein strategischer
Konkurrent – seine Interessen sind
trotzdem nicht deckungsgleich mit
denen Russlands.
Die Vereinigten Staaten sind in der
Ukrainekrise wieder in ihre traditio-
nelle Rolle geschlüpft. Präsident Bi-
den, der die innenpolitischen Proble-
me in seinem Land bekämpfen und
sich außenpolitisch auf den System-
wettbewerb mit China konzentrieren
wollte, musste nach Europa zurück-
kehren, um die Führung im Kampf
gegen das revisionistisch-aggressive
Russland zu übernehmen. Ohne ame-
rikanische Waffen wäre die Ukraine
verloren. Das transatlantische Einver-
nehmen war nie größer als auf der
Münchner Sicherheitskonferenz im
Februar. Trotzdem werden sich die
USA auf Dauer innenpolitisch auf
ihre eigenen Probleme und außen-
politisch auf den pazifischen Raum
konzentrieren.
Das ist die weltpolitische Lage.
Deutschland hat die Wahl, sich
abwartend und reagierend mit dem
Schicksal einer von äußeren Entwick-

lungen abhängenden Regionalmacht
zu begnügen oder diese Entwicklun-
gen aktiv zu beeinflussen. Deutsch-
land als viertstärkste Wirtschafts-
macht der Welt kann das. Deutsch-
lands weltweites Ansehen erlaubt das
auch. Und unsere Geschichte und
unsere geografische Lage verpflichten
uns dazu. Es wird allerdings kein
Selbstläufer. Verantwortung zu über-
nehmen kann nicht heißen, immer
nur das Nötigste als Letzter zu ma-
chen. Es heißt, die eigenen Interessen
zu definieren – und sie durchzu-
setzen.
Als deutscher Botschafter bei den
Vereinten Nationen und zeitweiser
Vorsitzender des Uno-Sicherheits-
rates habe ich einen Satz immer wie-
der gehört: Bitte übernehmt eine
Führungsrolle! Ein Botschafter eines
wichtigen asiatischen Landes bat um
stärkeres deutsches Engagement, um
Chinas Druck widerstehen zu kön-
nen. Ein afrikanischer Botschafter
drängte: »Helft uns, den 1000-Pfund-
Gorilla von unserem Rücken zu
holen!«
Geld ist dabei nicht die Hauptsa-
che, es braucht den politischen Willen
zur Führung. Anfänge hat es gegeben:
die Gründung des Normandie-For-
mats 2014 im ersten Russlandkrieg
gegen die Ukraine, den Berliner Pro-
zess zur Bindung der Balkanstaaten
an Europa, die Berliner Konferenzen
zur Stabilisierung Libyens. Heute
sind wir wieder nur Getriebene: Der
Bundeskanzler hat in seiner bemer-
kenswerten Rede im Bundestag die
»Zeitenwende« angekündigt. Gefolgt
ist bislang wenig.

L


eitlinie unserer Außenpolitik
muss sein, was Deutschland und
Europa ihre längsten Friedens-
perioden beschert hat: das Rechts-
staatsprinzip. So wie in Deutschland
das Grundgesetz und in Europa die
europäischen Verträge die Basis allen
Handelns sind, so wie das Bundes-
verfassungsgericht oder der Europäi-
sche Gerichtshof die höchsten Streit-

P


utins Überfall auf die Ukraine
bedeutet eine Zäsur. Eine Zäsur
für Russland, das bis zum Ende
der Putin-Diktatur nicht in den Kreis
der zivilisierten Nationen zurück-
kehren kann. Für die Nato, deren seit
1989 vernachlässigte Aufgabe der
Verteidigung des Bündnisgebietes
wieder aktuell geworden ist. Und eine
Zäsur für Deutschland – zumindest
sollte es das sein.
Die Bundesrepublik steht vor
ihrem dritten Neustart. Der erste fand
1949 statt: mit dem Aufbau von De-
mokratie, dem wirtschaftlichen Auf-
stieg, der Integration in die westlichen
Bündnisse. Die zweite Phase begann
1989 mit der Wiedervereinigung.
Deutschland legte an Gewicht zu, be-
gnügte sich aber außenpolitisch mit
einer eher passiven Rolle, obwohl es
von der Globalisierung profitierte wie
kaum ein anderes Land: Russland
lieferte billige Energie, die westlichen
Länder kauften unsere Produkte,
China war erst eine verlängerte Werk-
bank und dann ein riesiger Markt.
»Wandel durch Handel« blieb das
Motto, wir wurden das zweitgrößte
Geberland der Vereinten Nationen,
aber bei außenpolitischen Heraus-
forderungen lautete die erste Frage
immer: »Was machen die anderen?«
Möglichst es mit niemandem verder-
ben: nicht mit den USA, mit Russ-
land, mit China. Das Ende dieser Poli-
tik durch den putinschen Zivilisa-
tionsbruch markiert den Beginn der
dritten Phase.
In der Rede des damaligen Bun-
despräsidenten Joachim Gauck auf
der Münchner Sicherheitskonferenz
2014 war dies bereits angelegt:
Deutschland müsse mehr Verantwor-
tung übernehmen, forderte er. Jetzt
erlaubt Putins Aggression kein Zö-
gern mehr, das internationale Umfeld
hat sich verändert. Nicht nur im euro-
päischen Osten. Es gilt, auch nach
China, in die USA, nach Afrika und
Lateinamerika zu blicken.
Nach dem russischen Überfall hat-
ten viele auf eine Distanzierung Chi-


Es reicht nicht, immer nur als Letzter das Nötigste zu tun


Warum Deutschland die außenpolitische Zurückhaltung


aufgeben und Führung übernehmen muss


Von Christoph Heusgen


Heusgen, geboren
1955, ist Vorsitzender
der Münchner
Sicherheitskonfe-
renz. Er war außen-
und sicherheits-
politischer Berater
von Bundeskanzlerin
Angela Merkel und
von 2017 bis 2021
Botschafter bei den
Vereinten Nationen
in New York.

ZEITENWENDE

Andreas Chudowski
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