Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 45

beilegungsinstanzen sind, so muss für
uns auch weltweit die auf der Uno-
Charta beruhende internationale
Rechtsordnung die Grundlage unse-
res Handelns sein.
Zur Durchsetzung sollten wir
unser Personal an den deutschen Aus-
landsvertretungen außerhalb der
Europäischen Union massiv aufsto-
cken. Chinesische Botschaften ver-
fügen in der Regel über ein Vielfaches
an Personal. Als Botschafter bei den
Vereinten Nationen habe ich erlebt,
wie hart der Kampf um die Stimmen
ist. Wir sind zwar einer der größten
Geber, aber wir schaffen es nicht,
unser Geld strategisch einzusetzen.
Die Trennung von Auswärtigem
Amt und Bundesministerium für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit ist nicht
mehr zeitgemäß. Bündeln wir unsere
Kräfte nicht, werden wir nicht ver-
hindern können, dass immer mehr
Entwicklungsländer unter den Ein-
fluss vor allem Chinas geraten.
Diese Fragen stellen sich nicht nur
in Afrika. Die von Außenministerin
Anna-Lena Baerbock organisierte
Geberkonferenz für die Republik
Moldau war eine hervorragende Ini-
tiative, die die Ȇbernahme von Ver-
antwortung« in die Praxis übertragen
hat. Die Republik Moldau braucht
aktuell Budgethilfe, um die Auswir-
kungen des Russlandkriegs abzu-
federn: Das ärmste Land Europas kann
die akuten Lasten durch Hundert-
tausende Flüchtlinge und steigende
Energiepreise nicht stemmen. Moldau
steht seit Jahren auf der Kippe zwi-
schen prorussischen und proeuro-
päischen Regierungen. Die Ergebnis-
se der Konferenz waren ernüchternd:
Einer begrenzten Budgethilfe standen
Hunderte Millionen zinsverbilligter
Kredite aus dem Entwicklungshilfe-
ministerium gegenüber. Was gut
klingt, hilft dem Land kurzfristig nicht
und kann es im Übrigen die Schulden-
tragfähigkeit kosten und damit der
Möglichkeit berauben, IWF-Kredite
in Anspruch nehmen zu können. Eine
Politik aus einer Hand hätte hier
Entscheidendes bewirken können.
Russland hat schon indirekt den »An-
schluss« eines Teils der Moldau, näm-
lich Transnistriens, angekündigt.
Wenn das kein Alarmsignal ist, was
braucht es noch?
Die Bundesregierung muss drin-
gend einen »Nationalen Sicherheits-
rat« einrichten. In einem solchen Rat
sollten die für unsere Sicherheit rele-
vanten Fragen institutionell zusam-
mengeführt werden: Außenhandel,
Verteidigung, Nachrichtendienste,
Versorgung, Schutz der kritischen In-
frastruktur, Umgang mit Cyberangrif-


fen. Die Angst vor Kompetenzver-
lusten und das traditionelle Ressort-
prinzip verhindern die Gründung
eines solchen Gremiums seit Jahr-
zehnten. Fast alle wichtigen Partner
verfügen über eine solche Einrich-
tung. Wenn nicht jetzt, wo im Russ-
landkrieg all diese Fragen im Zusam-
menhang betrachtet werden müssen,
wann dann?

W


ir werden der chinesischen
Herausforderung nur begeg-
nen können, wenn wir Part-
ner finden. Dabei sollten wir uns auf
Länder konzentrieren, die unseren
Ansatz teilen, Länder, die versuchen,
Rechtsstaatlichkeit umzusetzen, und
regelmäßige Wahlen abhalten. Diese
Länder sollten Budgethilfe erhalten
und Hilfe bei der Stärkung der staat-
lichen Institutionen, der Bekämpfung
der Korruption, der Finanzierung
einzelner Infrastrukturprojekte, der
Schaffung von Arbeitsplätzen, der
Möglichkeit geordneter Einwan-
derung.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass
China, wenn es heftigen Gegenwind
erfährt, einschwenkt; partnerschaft-
liche Ansätze und gemeinsame Pro-
jekte wären vorstellbar. Das funktio-
niert allerdings nur, wenn China mas-
siven Druck spürt. Ein Beispiel: Im
Zusammenhang mit den Olympi-
schen Winterspielen wurde China
weltweit wegen seiner Uiguren-Poli-
tik kritisiert. Bei einer kürzlichen Be-
gegnung sagte mir der Präsident des

China braucht
Deutschland –
das ist
eine Stärke,
auf der
man aufbauen
kann.

Uigurischen Weltkongresses, Dolkun
Isa, dass dieser Druck gewisse Fort-
schritte gebracht habe. So sei die An-
zahl der Kontrollpunkte in der Pro-
vinz Xinjiang massiv verringert wor-
den, die Uiguren könnten sich wieder
freier bewegen. Das ändert nichts an
ihrer grundlegenden Diskriminie-
rung. Aber es beweist: Prinzipien-
treue, Zusammenhalt und Druck
unsererseits zahlen sich aus.
Wir sollten auch versuchen, die
Amerikaner von den Vorteilen einer
regelbasierten internationalen Ord-
nung zu überzeugen. Sie gehören
zwar zu den Gründern der Vereinten
Nationen, aber der geschichtlich be-
gründete »American Exceptionalism«
gehört immer noch zum Fundament
der US-Außenpolitik. Wir sollten
trotzdem nicht aufgeben, sie zu einem
klareren Bekenntnis zum internatio-
nalen Recht zu bewegen. Es würde
ihren globalen Führungsanspruch
stärken, nicht schwächen. So könnten
wir sie auch von ihrer polarisierenden
Fokussierung auf China und vom
»Decoupling« abbringen, also von
der Abkopplung des amerikanischen
vom chinesischen Wirtschaftskreis-
lauf, einer Politik, die auch auf chi-
nesischer Seite verfolgt wird. Aber
die Amerikaner respektieren nur Ent-
schlossenheit. Zeigen wir diese nicht,
werden alle schönen Worte nichts
nützen.
Die Bundesregierung sollte außer-
dem dringend eine Balkankonferenz
organisieren. Der Balkan wurde in
den Neunzigerjahren schon einmal
von einem Bürgerkrieg verheert, die
Risse in der dortigen Sicherheitsarchi-
tektur sind wieder deutlich. Auch die
zentralasiatischen Staaten und die
Mongolei, das Asean-Bündnis und
viele lateinamerikanische Länder
wünschen sich einen Partner, der ih-
nen hilft, sich aus der Umklamme-
rung durch Russland und China zu
befreien.
Die Nato und die Europäische
Union bleiben unsere geborenen Ver-
bündeten. Die EU ist die Inkarnation
des Prinzips der Stärke des Rechts,
das Gegenmodell zum Recht des Stär-
keren. Auch im Rahmen der EU soll-
ten wir mithelfen, dass Staaten, die
sich der regelbasierten Ordnung ver-
schreiben, die erforderliche Unter-
stützung erhalten.
Die Welt verändert sich mit gro-
ßer Geschwindigkeit. Es reicht nicht,
dabei zuzuschauen und zu hoffen,
der Sturm möge an uns vorbei-
ziehen. Deutschland muss und kann
konkret Verantwortung überneh-
men. Das ist in unmittelbarem deut-
schen Interesse. n

Präsidenten Putin
und Xi in Sankt
Petersburg 2019:
Druck unsererseits
zahlt sich aus

Xinhua Xinhua / eyevine / ddp
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