Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
46 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022

REPORTER


D


as Foto habe ich in der Demokratischen
Republik Kongo 1970 mit meiner Leica-
Kamera aufgenommen, einem Geschenk
meines Vaters. Es zeigt im offenen Geländewagen
den belgischen König Albert Baudouin und den
Diktator der ehemaligen belgischen Kolonie,
Mobutu Sese Seko. Damals war ich Missionar im
Kongo und zu der Feier der zehnjährigen Un-
abhängigkeit eingeladen. Kurz bevor ich das Foto
machte, hörte ich, wie Mobutu den Fahrer des
Wagens unfl ätig beschimpfte, weil der in seiner
Nervosität den Rückwärtsgang eingelegt hatte.
Nur der belgische König – der »bwana kitoko«,
der schöne Herr, wie er früher genannt wurde –
lächelte unentwegt, wie es eben von einem
König erwartet wird. Bald waren die schicken
Anzüge der hohen Herren von einer Staubschicht
bedeckt.
Als Mobutu dem König die Missionare vor-
stellte und ich seine Hand drücken musste, be-
schloss ich, mein Amt als Priester aufzugeben.
Nie war mir so bewusst geworden, dass ich half,
einen Diktator von der schlimmsten Sorte zu
unterstützen. Mobutu hatte sein eigenes Volk
ausgebeutet und seine Gegner öffentlich foltern
und töten lassen. Aber wir hofi erten ihn, kritisier-
ten nicht, ordneten uns unter. Staat und Kirche

hatten sich arrangiert. So wollte Apostel Paulus
das, so war es gottgefällig. Ich aber fühlte mich als
Heuchler.
Wie viele Missionare war ich im Kongo, weil
ich als junger Mann raus in die Welt wollte und
tatsächlich daran glaubte, dass den Völkern dieser
Erde nur der richtige Glaube fehlte. Ich meinte
damals, den richtigen Glauben zu haben. Doch
meine Zweifel wuchsen mit den Jahren. Mit wel-
chem Recht ersetzten wir einen uralten Glauben
durch eine neue Religion? Hatte die Kirche wirk-
lich etwas Besseres gebracht? Ich hatte bald das
Gefühl, die ursprünglichen Beziehungen zu Gott
zu stören, sodass mir mein Einsatz im Kongo wie
ein Blindfl ug ohne Sinn und ohne Ziel vorkam.
Ich war trotzdem sehr gern im Kongo. Das Land
ist wunderschön. Der dort praktizierte Ahnenkult
hat mich schwer beeindruckt. Die Vorfahren
sterben so lange nicht, wie man an sie denkt. Und
stimmt das nicht? Wenn ich heute als 85-jähriger
Mann an meinen Vater denke, dann lebt der
auch bei mir. In dem Sinne haben mich die Kon-
golesen missioniert und nicht ich sie.

Blindfl ug, 1970


FAMILIENALBUM Bernward Mankau, 85, aus Murnau am Staffelsee


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Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an:
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Aufgezeichnet von Jonathan Stock

SPRACHE

»Können Wote Krieg
führen, Herr Roh?«
SPIEGEL: Warum schreien wir
eigentlich »wie am Spieß«?
Roh: In früheren Zeiten wurden
Opfer tatsächlich mit Lanzen,
also Spießen, aufgespießt.
Die Grausamkeiten des Krieges
waren über die Jahrtausende
eine alltägliche Erfahrung für
Menschen. Der Krieg hat
deshalb immer auch unsere
Sprache geprägt.
SPIEGEL: Und heute?
Roh: Heute »verteidigen« wir
Positionen, »greifen« einander
»an«, »geben uns geschlagen«.
Das ist nicht einfach nur Spra-
che. Die kognitive Metaphern-
theorie hat uns gezeigt, dass
wir in diesen Begriffen denken.
SPIEGEL: Wird ein Krieg also
eher mit Waffen oder eher mit
Worten gewonnen?
Roh: Sprache ist eine Waffe,
sagt Tucholsky. Sprache kon-
struiert Wirklichkeit. Putin tut
das zum Beispiel mit dem
Verbot, in Russland den Krieg
einen Krieg zu nennen. Das
ist eine wunderbare Illustration
dessen, was Orwell in seinem
Roman »1984« mit dem »Neu-
sprech« beschrieben hat.
SPIEGEL: Beeinfl usst dieser
Krieg in der Ukraine auch un-
sere Sprache?
Roh: Heldentum und Mut sind
keine typischen Motive der
politischen Sprache in der Bun-
desrepublik gewesen. Das hat
sich verändert. Die militäri-
schen Aktionen der Ukrainer
werden sehr häufi g im Narrativ
des heldenhaften David im
Kampf gegen Goliath erzählt.
SPIEGEL: Ist das also Propa-
ganda?
Roh: Es ist Beeinfl ussung. Ge-
rade in Demokratien ist Politik,
auch im Krieg, vollständig da-
rauf angewiesen, ihre Interessen
durch Sprache durchzusetzen.
In einer Diktatur wie Putins
Russland ist Sprache dagegen
nur Beiwerk, weil die Politik
dort mit Gewalt durchgesetzt
wird. Diese Gewalt macht Pro-
paganda aus. Wo Gegenrede
möglich ist, ist Beeinfl ussung
unproblematisch. JST

Professor Kersten Roth, 48, ist
Linguist und Leiter der Arbeits-
stelle für linguistische Gesell-
schaftsforschung in Magdeburg.
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