Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 47

einen Drink zu nehmen und eine Par­
tie Billard oder Darts zu spielen. Nun
hätten sie am Tresen gesessen, auf
ihre Handys gestarrt und auf die blau­
en Haken bei WhatsApp gewartet,
die zeigen, dass der Empfänger die
Nachricht gelesen hat. Viele seiner
Kollegen warteten seit Wochen da­
rauf, dass die Haken blau würden,
sagt Koloskov.
Sie hätten sich machtlos gefühlt,
es habe sie zerrissen, sagt er. Einige
Geologen und Mechaniker wollten
an die Front, die anderen zu ihren
Familien. Aber sie konnten nichts tun.
Der Eisbrecher lag noch im Dock.
Er weiß nicht, wann, aber irgend­
wann habe der Koch begonnen, ihnen
Festmahle zu servieren. Schnitzel mit
Kartoffelsalat und Pudding zum
Nachtisch, Pasta und Backkartoffeln
mit Sour Cream. Da sei etwas mit
ihnen passiert, sagt Koloskov. Sie hät­
ten angefangen zu arbeiten wie die
Wilden. Nachts bis zwei Uhr und
morgens von sieben an. Wie im
Rausch. Im Angesicht einer Kata­
strophe sei es wichtig, sich die Zeit zu
vertreiben.
Er lacht viel, am liebsten würde er
nur von seiner Arbeit erzählen. Ko­
loskov erforscht Blitze. Er baut eine
Hütte zum Blitzforschungslabor um,
installiert Antennen und Sensoren auf
dem Dach. Es gebe viel zu tun, sagt
Koloskov. Er will jetzt das Gespräch
beenden, er müsse weitermachen.
Der Direktor des Zentrums für ukrai­
nische Antarktisforschung, sein Chef,
sei nun bei der Armee in Kiew. Aber
bald werde ein Schiff kommen.
Vier Wochen nach dem Gespräch,
Ende April, ist Koloskov wieder am
Telefon. Der Eisbrecher hat ihn und
die anderen Forscher inzwischen nach
Chile gebracht, von dort aus sind sie
nach Europa geflogen.
Koloskov schläft jetzt bei Freun­
den in Warschau, seine Frau und seine
Tochter sind nach Köln geflohen.
Koloskov will bald zu ihnen fahren.
Er sagt, er wisse nicht, wie es weiter­
gehe. Er suche einen Job als Geo­
physiker, irgendwo in Europa. Die
russische Armee hat ihre Angriffe auf
Charkiw verstärkt. Seine Heimatstadt
ist jetzt schwerer zu erreichen als die
Antarktis.
Einer seiner Doktoranden lebe
mittlerweile im Keller seines Apart­
ments in Charkiw. Der Doktorand
habe ihm geschrieben, dass die Woh­
nung unbeschädigt sei, trotz russi­
schen Dauerbeschusses. Sogar der
Schuppen mit der Destille stehe noch.
In Charkiw sei der Frühling jetzt da,
habe er gesagt.

E


s war Anfang Februar, als sich
Koloskov von seiner Frau und
seiner Tochter verabschiedete,
in Charkiw lag Schnee. Seine Familie
lebt nahe dem Stadtzentrum in einem
Apartment mit einem großen Garten.
In dem Garten steht ein Schuppen mit
einer kleinen Destille darin, mit der
er ein paar Liter Schnaps im Jahr
brennt, als Hobby. Wenn er zurück­
komme, Ende April, hatte Kolo skov
zu seiner Frau gesagt, sei Frühling,
und sie könnten draußen sitzen und
ein Glas probieren. Koloskov freute
sich auf seine Reise in die Antarktis,
sagt er. Es sei eine Ehre für jeden
ukrainischen Wissenschaftler, auf der
Polarstation Wernadski arbeiten zu
dürfen.
Oleksandr Koloskov, 55, Geophy­
siker. Man kann mit ihm per Video
telefonieren, wie zum ersten Mal für
diese Geschichte, im März. Als Ko­
loskov die Kamera an diesem Tag aufs
Fenster richtet, sieht man Eisschollen
draußen in einem schwarzen Ozean
bis zum Horizont. Koloskov ist ein
freundlicher Mann mit Schnurrbart
und dunkel getönter Brille, der seinen
Kopf in den Nacken wirft wie ein
Walross, wenn er lacht. Er lacht oft.
Er sagt, es helfe ihm, nicht den Ver­
stand zu verlieren.
Er ist einer von elf ukrainischen
Wissenschaftlern, die in der Antarktis
lebten, als die russische Armee ihr
Heimatland überfiel. Während seine
Familie sich zum Schutz vor Mörser­
granaten in den Keller hockte, saß er
am anderen Ende der Welt fest, 15 358
Kilometer entfernt vom Zuhause, auf
einer winzigen Insel im Eismeer. Der
Eisbrecher, der die Forscher abholen
sollte, lag noch im Dock vor Chile.
Wernadski ist die einzige ukrai­
nische Antarktisforschungsstation.
Sie liegt auf einem schwarzen Felsen
mit ein paar Hütten darauf, 1000 Ki­
lometer südlich von Feuerland. Die
Gegend ist lebensfeindlich, nur spe­
ziell ausgerüstete Schiffe können die
Insel erreichen. Nicht weit von Wer­
nadski nahm sich das Packeis einst
die »Endurance«, das berühmte Se­
gelschiff des Polarforschers Ernest
Shackleton. Shackleton gab das Schiff
damals auf und zog mit seiner Crew

übers Eis auf eine Insel, wo sie auf
Rettung warteten. Die Männer
schlachteten Robben und spielten
Fußball im Schnee, um sich die Zeit
zu vertreiben.
Die Invasion begann drei Wochen
nach Koloskovs Abreise aus Charkiw,
um zwei Uhr nachts antarktischer
Zeit, er war noch wach. Sein Handy
klingelte, seine Frau war dran.
»Oleks, der Flughafen brennt«, habe
sie gesagt. Sie höre Explosionen.
»Nehmt Wasser und geht, sofort«,
habe Koloskov geantwortet. Das war
der Moment, als sich Wernadski in
eine Art Gefängnis verwandelt habe,
meint er.
Koloskov sagt, anfangs habe nie­
mand mehr schlafen können. Es gibt
einen Gemeinschaftsraum in einer
der Hütten, darin treffen sich die Wis­
senschaftler zum Essen. An der Decke
hängt ein Satellitenfernseher, auf dem
sie Nachrichten geschaut hätten, Tag
und Nacht. Vor der Expedition gab
es Dutzende ukrainische Fernsehsen­
der, inzwischen gibt es nur noch einen
Kanal. Er sendet 24 Stunden am Tag
Bilder vom Krieg.
Manchmal seien sie rübergegan­
gen in die Hütte mit der Faraday­Bar.
Die Briten, die die Station 1947 ge­
gründet hatten, haben sie aus Planken
gezimmert, es ist die südlichste Bar
der Welt. Es sei Brauch gewesen,
samstags in Anzug und Abendkleid

Am Ende der Welt


EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wie ein ukrainischer Polarforscher
in der Antarktis den Krieg in seiner Heimat erlebte

Die Invasion
begann
um zwei Uhr
nachts
ant arktischer
Zeit, Koloskov
war noch
wach.

Max Polonyi n

Forscher Koloskov in
der Antarktis,
Screenshot von der
Website Wired.co.uk
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