Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
REPORTER

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 49

Unter dem Stahl


UKRAINE Seit Wochen harren Widerstandskämpfer, Verwundete, Frauen und Kinder im gigantischen Stahlwerk
von Mariupol aus, belagert von russischen Truppen. Nun dringen schockierende Meldungen
der Eingeschlossenen nach außen. Unter ständigem Beschuss müssen sie sich auf ihren Tod vorbereiten.

D


as Buch der Kriegsverbrechen wird
dieser Tage fortgeschrieben, Seite
um Seite, und ein ganzes Kapitel
wird heißen: Mariupol. Im Stahl-
werk der Küstenstadt am Asow-
schen Meer sitzen Hunderte, womöglich Tau-
sende Menschen fest, attackiert von russi-
schen Truppen, fast Tag und Nacht: vom Meer
her, vom Boden aus und wohl auch mit bun-
kerbrechenden Bomben aus der Luft.
Azovstal, Asow-Stahl, heißt das Hütten-
und Walzwerk, eine Industrieanlage auf acht
Quadratkilometer Gelände, für den Laien
undurchschaubar bebaut, ein Gebirge aus Ge-
bäuden, über denen Rauchfahnen stehen,
auch in Friedenszeiten. Das Areal unterkellert
von einem Labyrinth aus Schächten, Tunneln
und Bunkern, in dem jetzt irgendwie die letz-
ten Verteidiger von Mariupol ausharren.
Ukrainische Soldaten halten die Stellung,
gemeinsam mit Kämpfern des Asow-Regi-
ments, einer Einheit, der auch ukrainische
Nationalisten angehören. Viele Militärs sollen
verwundet sein, etliche schwer. Unter ihren
Schutz haben sich Familien in unbekannter
Zahl begeben, Zivilisten, Kinder, Alte. Sie
flüchteten in die Anlage, als man sich in der
Stadt noch bewegen, als man das Stahlwerk
noch betreten und verlassen konnte. Sie ka-
men über den Fluss Kalmius, um dem Krieg
zu entgehen, aber nun ist aus dem Schutz-
raum eine Falle geworden. Alles ist ungewiss.
Wie lange das Wasser reicht, das Essen, der
Strom. Wann die Angreifer das Gelände er-
stürmen.
Alle Appelle an die russische Führung, die
Belagerung zu beenden, und es gab derer vie-
le, haben nichts gefruchtet. Humanitäre Kor-
ridore für die Evakuierung der Zivilisten wer-
den alle paar Tage neu verabredet und von
russischer Seite dann doch wieder aufgekün-
digt oder sogar für Attacken ausgenutzt. Der
dritte Weltkrieg ist für die Eingeschlossenen
von Asow-Stahl keine abstrakte Bedrohung;
er hat für sie längst begonnen.
Weit weg, in Moskau, am langen Tisch im
Kreml, belehrte der Hausherr Wladimir Putin
den Gast dieser Woche, Uno-Generalsekretär
Antonió Guterres, darüber, dass in Wahrheit
alles ganz anders sei. Dass die Welt über die
Lage in Mariupol falsch informiert werde. Die
Stadt sei »befreit«, ließ Putin wissen, und folg-

lich müsse dort auch keine militärische Ope-
ration mehr stattfinden. Die Wahrheit, sie ist
wirklich das erste Opfer des Krieges. Aber
der Spruch führt auch in die Irre.
Es gibt, im Krieg, sehr wohl noch Wahr-
heit, und zwar die der Opfer. Reporter in
Kriegsgebieten machen diese Erfahrung im-
mer wieder: dass zivile Opfer kaum je lügen.
Sie mögen sich über Einzelheiten täuschen,
Orte und Zeiten manchmal durcheinander-
bringen, sie mögen sich an Details falsch er-
innern und manchmal auch Gehörtes und
Selbsterlebtes nicht klar trennen, aber be-
wusst die Unwahrheit sagen Opfer in aller
Regel nicht. Die Täter hingegen lügen fast
immer.
Sie haben, anders als ihre Opfer, viel zu
verbergen und zu verlieren. Sie müssen ihr
Handeln rechtfertigen, und sei es nur vor sich
selbst. Und die schlimmsten Gräueltaten wür-
den sie gern ganz vertuschen, spurlos ver-
gessen machen, am besten auch gleich von

der eigenen Seele löschen. Aber dieser Krieg
kann nicht gelöscht werden. Es werden sich
Menschen rechtfertigen müssen, nicht nur
vor sich selbst, für Exekutionen und Folte-
rungen, für Massaker und Massengräber in
der Ukraine. Und für Mariupol.
Dort finden in diesen Tagen und Stunden
Kriegsverbrechen statt, womöglich Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit, darüber wer-
den internationale Gerichtshöfe zu befinden
haben. Unbeteiligte, verwundete, geschun-
dene Opfer werden an der Flucht gehindert
und von einer angreifenden Armee vorsätz-
lich grausam behandelt. Sie werden, obwohl
gefangen, ausgehungert und praktisch wehr-
los, weiter mit Bomben und Granaten bestri-
chen, ohne Gnade.
Es gibt dafür noch keine gerichtsfesten Be-
weise. Auch haben unabhängige Medien und
internationale Organisationen keinen Zugang
zum Stahlwerk. Aber es gibt jetzt Stimmen
aus dem Innern. Die Wahrheit der Opfer.
Spärliche Meldungen drangen bis heraus,
wenige Videos, Kurznachrichten, Chats aus
der vom Krieg isolierten Welt des Unter-
grunds von Asow-Stahl, wo Mobiltelefone
lebensgefährlich sind, weil der Feind sie orten
kann. Dennoch konnten SPIEGEL-Reporte-
rinnen und -Reporter Kontakt herstellen zu
Menschen im Stahlwerk. Sie kommunizierten
mit Insassen, die damit rechnen müssen, nicht
mehr lange zu leben. Mit anderen, die dieser
furchtbarsten Form der Belagerung gerade
noch entkommen sind. Mit ehemaligen Di-
rektoren und heutigen Konzernchefs, die die
Topografie dieses Schlachtfelds erklären kön-
nen. So entsteht ein Bild der Lage, mit Lü-
cken, die durch Recherche derzeit nicht zu
schließen sind, aber es ist wenigstens ein
Phantombild dessen, was in Mariupol gerade
geschieht.
Die Aussagen der Zeuginnen und Zeugen
werden im Folgenden dokumentiert. Die
Textstücke fügen sich zu einer dramatischen
Erzählung: In Mariupol, im Stahlwerk dort,
reißen russische Soldaten gerade die Grenze
zwischen Wirklichkeit und Albtraum ein. Und
wenn die tödliche Belagerung nicht sofort
endet, werden die Namen Asow-Stahl und
Mariupol im großen Buch der Kriegsverbre-
chen zu jenen zählen, die die Menschheit
nicht mehr vergisst.

3 km

Asowsches Meer

Mariupol

analysierte
Fläche

Gebäude
Schwer zerstörte Gebäude

Stahlwerk Asow-Stahl

Verbrannte Erde


Zerstörung in Mariupol

S◆Quelle: Daten des Sentinel-1A-Satelliten (ESA)
vom 17. April, ausgewertet von Masae Analytics
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