Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

REPORTER


50 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


MICHAIL WERSCHININ
Leiter der Streifenpolizei im
Bezirk Donezk

Werschinin, 48, ist seit dem 7. April
auf dem Gelände von Asow-Stahl.
Er hat vom SPIEGEL eine Liste mit
Fragen bekommen, die er
zwischen dem 24. und dem 27. April
in mehreren Sprachnachrichten
über den Messengerdienst Signal be-
antwortet hat.


Wie lautet Ihr voller Name, was ist
Ihr Dienstgrad?
Michail Aleksandrowitsch Werschi-
nin, Hauptmann der Streifenpolizei
des Bezirks Donezk, seit 2015 im
Dienst.
Wie ist Ihre Familiensituation?
Warum wollen Sie das wissen?
Normal.
Was ist Ihre Rolle bei der Verteidi-
gung Mariupols?
Hoffentlich eine wichtige. Das kann
ich momentan nicht genau sagen.
Seit wann sind Sie auf dem Gelände
von Asow-Stahl?
Am 7. April wurde ich hergebracht,
als ich verwundet wurde und hier
im Krankenhaus operiert werden
musste.
Wo halten Sie sich auf dem Gelän-
de auf?
Kein Kommentar. Im Bunker.


VALERIJA
Schriftstellerin

Die 32-jährige Asow-Kämpferin
hat dem SPIEGEL Sprach-
nachrichten via Telegram geschickt.

»Die Bedingungen sind schrecklich.
Es gibt ein Krankenhaus auf dem
Gelände, aber wir werden durchge-
hend bombardiert oder mit Artillerie
beschossen. Die Ärzte operieren
mithilfe einer Taschenlampe, weil es
keinen Strom gibt. Die Kranken-
schwestern und Sanitäter arbeiten
rund um die Uhr.
In unser Lazarett werden Soldaten
gebracht, denen Gliedmaßen fehlen
oder die Schrapnellwunden haben.
Es gibt keine Medikamente, keine
Narkosemittel, keine Antibiotika.
Selbst wenn eine Operation erfolg-
reich ist, ist das Risiko groß, dass die
Menschen Wundbrand bekommen
oder eine Blutvergiftung. Viele Sol-
daten werden nur überleben, wenn
man sie sofort evakuiert. Andere ster-
ben vor unseren Augen.
Es gibt nicht genug Lebensmittel,
nicht genug Wasser. Wir wissen


Festung am Meer


Lage des Asow-Stahlwerks
in Mariupol

S◆Quelle: Institute for the Study of War and Critical Threats Project; eigene Recherche; Modell: OpenStreetMap, SPIEGEL

Postbrücke Hochöfen

Ein Großteil von
Mariupol wurde
zerstört.

Hafenanlage

Walzwerke

Halden/Aufschüttungen

Sinteranlage

Konverter und
Stahlwerk Verwaltung
Asow-Stahl
circa Ž km

Theater

Vorstoßrichtung der
russischen Armee

Asowsches Meer

Größenvergleich:
’ × ’ km

Autorin Valerija

nicht, wovon wir die Verletzten er-
nähren sollen. Die Kämpfer haben
ihrem Land gedient – nun lässt man
sie allein. So sollte es nicht sein. Die
Soldaten haben für ihr Land ge-
kämpft. Nun sollte ihr Land für sie
kämpfen.«

JURIJ RYSCHENKOW
CEO

Asow-Stahl gehört zu Ryschenkows
Konzern Metinvest.
Der SPIEGEL hat den 45-Jährigen
am Mittwoch per
Videoanruf interviewt.

»Die ganze Welt hat uns gewarnt,
dass Russland die Ukraine überfallen
würde. Aber wir haben es nicht
geglaubt. Wir dachten: Vielleicht
gibt es Angriffe im Osten – aber
einen echten Krieg? Selbst einen Tag
vor der Invasion waren wir sicher,
dass nichts passieren würde. Wir wa-
ren Narren.
Metinvest, die Firma, zu der
Asow-Stahl gehört, hat trotzdem ei-
nige Vorkehrungen getroffen. Seit
2014 herrscht Krieg im Osten der
Ukraine, es gab auch immer wieder
Explosionen in der Nähe von Mariu-
pol. In Awdijiwka, in der Nähe von
Donezk, mussten unsere Arbeiter
einmal eine Zeit lang in Bunkern
leben. Für einen solchen Fall woll-

ten wir uns auch in Mariupol vorbe-
reiten.
Wir haben die Vorräte in Asow-
Stahl aufgestockt, Wasser und Le-
bensmittel dorthin gebracht. Wir
dachten, Reserven für drei Wochen
würden genügen. Dass der Krieg
Monate dauern könnte – das haben
wir uns damals nicht vorstellen
können.
Die Bunker können etwa 4000
Menschen fassen. Als die Invasion be-
gann, war für uns klar: Jeder, der
Schutz sucht, ist dort willkommen.
Nicht nur unsere Mitarbeiter flüchte-
ten ins Werk, sondern auch Leute aus
der Umgebung. Zivilisten, Frauen,
Kinder. Viele sind noch immer dort
und von russischen Truppen einge-
schlossen. Aber wenn es die Bunker
in Asow-Stahl nicht gegeben hätte,
wären sie jetzt vielleicht tot.
Asow-Stahl hatte vor dem Krieg
11 000 Mitarbeiter. Mit 4500 sind wir
in Kontakt oder wissen zumindest,
wo sie sich aufhalten. Einige sind
noch immer in den besetzten Gebie-
ten, aber wenigstens in Sicherheit.
Andere haben es geschafft, Mariupol
zu verlassen. Über die restlichen
6500 wissen wir nichts. Ich hoffe,
dass sie am Leben sind und dass es
ihnen gut geht.
Die ersten Wochen hatten wir
noch Kontakt zu den Menschen im
Stahlwerk. Es gab Strom, an einige
Mitarbeiter hatten wir Satellitentele-
fone verteilt. Jetzt ist die Verbindung
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