REPORTER
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 51
praktisch abgerissen, ich weiß nicht
einmal, wie viele Menschen noch im
Werk sind. Aber ich glaube, dass es
viele sein müssen.
Ich hatte in den ersten Tagen des
Kriegs Sorge, dass das Werk von
einem Geschoss getroffen werden
könnte. In unserer Fabrik gibt es Be-
hälter, die unter Druck stehen, es wer-
den giftige Stoffe gelagert. Wären sie
explodiert, hätte das eine Katastro-
phe ausgelöst. Als die Kämpfe näher
rückten, haben unsere Mitarbeiter die
Technik gestoppt und alles aus der
Schusslinie gebracht, was sie konnten.
Und das unter ständigem Bombarde-
ment und unter Lebensgefahr! Für
mich sind sie Helden.
Die Russen behaupten, es gebe
riesige Katakomben unter dem Stahl-
werk, aus denen die Kämpfer operie-
ren. In Wahrheit ist das alles ein
Fake. Klar, jede Fabrik hat Tunnel für
Kabel oder Rohrleitungen. Aber das
sind keine ausgeklügelten Anlagen,
in denen man sich frei bewegen oder
gar leben kann. Glauben Sie das
nicht.
Wir bitten die Besatzer darum, die
Frauen und Kinder gehen zu lassen.
Ihnen eine Möglichkeit zu geben zu
fliehen. Was in Mariupol passiert, ist
eine Katastrophe.«
MICHAIL WERSCHININ
Leiter der Streifenpolizei
Warum ist es so schwierig für Ihre
Feinde, Asow-Stahl zu erobern?
Entschuldigen Sie, wenn ich das
sage: weil es von Männern mit
Eiern verteidigt wird. Es handelt
sich auch um einen strategisch
wichtigen Ort, der zu Zeiten der
Sowjetunion gebaut wurde, als
ein Nuklear krieg erwartet wurde.
Wer ist noch bei Ihnen?
Nicht direkt bei uns, aber ebenfalls
auf dem Gelände sind Zivilisten,
einige Hundert Zivilisten inklusive
Kinder und Babys. Hier sind ver-
schiedene Einheiten, die ich nicht
nennen werde, aber die Marine ist
dabei. Das Asow-Regiment stellt
die größte Einheit des Widerstands.
Sie ist das Rückgrat. Es gibt hier
Verwundete, viele Verwundete. Sie
brauchen dringend medizinische
Hilfe, weil sie schwere Verletzungen
haben und es hier nicht die richti-
gen Bedingungen gibt, ihnen zu
helfen. Soweit ich weiß, ist ein ver-
wundeter Soldat nach der Genfer
Konvention kein Kämpfer, sondern
eine Person, die medizinische Be-
handlung braucht.
Haben Sie noch Hoffnung?
Wir haben immer Hoffnung. Ohne
Hoffnung gäbe es keinen Wider-
stand.
Wie lange können Sie noch durch-
halten?
Solange es geht. Die Leute hier ken-
nen ihre Aussichten sehr gut. Falls
jemand irgendwo draußen im Land
denkt, dass wir auf die Kapitulation
hoffen, dann ist das nicht wahr. Na-
türlich will niemand sterben, aber
wenn es nötig ist, werden die Leute
es hier tun. Sie tun es bereits, in je-
der Stunde, in jeder Minute kämp-
fen die Leute gegen den Feind.
VIKTOR OTSCHERETIN
ehemaliger Produktionsleiter
Otscheretin, 62, war bei Asow-Stahl
Vorarbeiter, Stahlwerker, am Ende
der Chef des großen Walzwerks.
Unter seiner Leitung waren
1780 Menschen aus 43 Nationen
beschäftigt. Der SPIEGEL erreichte
ihn am Telefon in Talne im
Bezirk Tscherkasy, wo er mit seiner
Familie bei Verwandten unter-
gekommen ist.
»Schon als sehr junger Mann war für
mich klar, wo ich einmal arbeiten
möchte. Ein Drittel der Stadtbewoh-
ner von Mariupol war in den Stahl-
werken Asow und Iljitsch beschäftigt.
Ich wollte immer mit Stahl und Feuer
arbeiten.
Unser Teilwerk allein war andert-
halb Kilometer lang und 500 Meter
breit. Das sind etwa zehn Prozent der
Gesamtfläche von Asow-Stahl. Unser
Werk gehörte zu den neueren Teilen
von Asow-Stahl, es war 1973 eröffnet
worden. Unter meiner Leitung war
es eines der größten Stahlwerke Euro-
pas – und dabei extrem sicher. Die
Gebäude entstanden zu einer Zeit, in
der man ständig mit einem dritten
Weltkrieg rechnen musste. Deswegen
wurden sehr gute Bunker gebaut. Das
Ziel war, im Falle der Zerstörung der
Produktion zumindest die Experten
zu retten, es ging um ihr Wissen.
Es gab bei uns zwei mindestens
fünf Meter tiefe Bunker – mit Du-
schen, Toiletten, Umkleiden, einfa-
chen Betten, einem Generator und
zwei verschiedenen Zugängen – für
jeweils 150 Personen. Dort konnten
also insgesamt 300 Menschen Schutz
finden. Alle Werke bei Asow-Stahl
verfügen über eigene Bunker, insge-
samt wohl so um die 50. Dort kann
man gut 50 Tage überleben, wenn
man genügend Vorräte hat.
In den ersten Tagen der Bombar-
dierung von Mariupol, also nach dem
- Februar, sah ich, wie immer mehr
Bewohner des linken Ufers (des Flus-
ses Kalmius, er mündet westlich der
Anlage in das Asowsche Meer –Red.)
in Richtung Asow-Stahl zogen. Viele
wussten von den Bunkern dort, die
ehemaligen Arbeiter sowieso.
Als die Bombardierungen nach
dem 28. Februar heftiger wurden,
machten sich Massen auf den
Weg. Sie gingen zu Fuß oder fuhren
mit dem Auto auf das Gelände, die
Werktore waren geöffnet. Als am - März die Brücken über dem Fluss
bombardiert wurden, waren bereits
4000 Menschen in den Asow-Bun-
kern. Danach war es sehr schwierig,
dort noch rauszukommen, vor
allem für Leute mit kleinen Kindern.
Es gab ja ständig Beschuss, und die
Wege zum Werktor waren weit, bei
einigen Bunkern sechs bis zehn Kilo-
meter.
Ich selbst war bis zum 11. März je-
den Tag auf dem Werksgelände. Seit
dem 2. März habe ich Brot und Was-
ser für Bedürftige ausgefahren mit
meinem Renault Logan. Ich habe
auch Fotos gemacht, musste die meis-
ten aber leider löschen, aus Angst vor
Kontrollen durch russische Soldaten
auf unserer Flucht.
Die Bunker in Asow-Stahl sind
nicht miteinander verbunden, aber
es ist trotzdem möglich, auf dem Ge-
lände unterirdisch von einem Werk
in ein anderes zu gelangen. Es gibt
übermannshohe Kabelschächte, Tras-
sen für Stromleitungen und Heizroh-
re, diese Verbindungen sind auf dem
Gelände in bis zu vier Ebenen über-
einandergeschichtet. Das alles reicht
20 bis 30 Meter in die Tiefe. Ich gehe
davon aus, dass noch etwa 1200 Zivi-
listen in den Bunkern sind. Das ist
aber nur eine Schätzung auf Grund-
lage der Zahl am Anfang und der
Lage danach.
Ich habe 38 Jahre lang im Stahl-
werk gearbeitet, bevor man mich
2016 gebeten hat, Vorsitzender der
Bezirksverwaltung im Stadtteil Liwo-
bereschnyj zu werden – also auf dem
linken Ufer. Ich hatte dort ja selbst
seit Jahrzehnten gelebt. Wir haben
viel erreicht in den fünf Jahren mei-
ner Arbeit dort, drei Parks gebaut,
die Straßen asphaltiert, die Straßen-
lampen mit LED nachgerüstet. Es gibt
neue Stadtbusse mit Klimaanlagen,
5000 Bäume wurden gepflanzt, Schu-
len, Kindergärten, Schwimmbäder
renoviert, auch das Kulturhaus.
Jetzt ist alles, einfach alles, zer-
stört. Ich kann darüber nicht spre-
chen, ohne zu weinen.«
Stahlwerker
Otscheretin
»Als die Brü-
cken bombar-
diert wurden,
waren bereits
4000 Men-
schen in den
Bunkern.«