Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

REPORTER


52 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


LESJA
Informatikerin

Lesja, 32, möchte nicht viel über sich
preisgeben, nicht ihren vollen
Namen, nicht ihren Wohnort. Ihre
Mutter Olena ist Sanitätssoldatin im
Asow-Regiment, schon seit Ende
Februar abkommandiert ins Stahl-
werk. Zeitweise hatten Mutter und
Tochter täglich Kontakt, dann wie-
der hörten sie tagelang nichts von-
einander. Während des Gesprächs
via Zoom wirkt Lesja am Dienstag-
abend stark und gefasst, bis sie am
Ende der Unterhaltung sagt, ihre
Mutter und sie wüssten, dass sie sich
wohl nicht wiedersehen werden.


»Ich war noch nie in Mariupol. Aber
ich hoffe, dass ich die Stadt eines Ta-
ges besuchen kann, wenn wir gewon-
nen haben und sie wieder aufgebaut
ist. Am 28. Januar brach meine Mut-
ter zu einem Einsatz dorthin auf. Sie
ist Sanitäterin bei einer Einheit, die
die Industrieanlagen bewacht. Ich
hatte ein ungutes Gefühl, aber Mama
beruhigte mich. Sie sagte mir, die Sol-
daten, die sie betreut, seien nicht in
Mariupol, um zu kämpfen. Sie sollten
nur den Betrieb überwachen und hat-
ten sogar die Anweisung, sich zurück-
zuziehen, falls der Krieg beginnt.
Aber als es dann wirklich passierte,
mussten sie auch kämpfen.
Der Krieg war ein Schock für uns.
Am 24. Februar wurde ich wach, weil


meine Mutter aus Mariupol anrief.
›Es hat begonnen‹, hat sie gesagt, ›sie
bombardieren schon.‹ Am 2. März
brach der Kontakt zu meiner Mutter
erstmals ab. Wir wussten nicht, ob sie
noch lebt. Damals gab es die ersten
Berichte, dass die Russen in die Stadt
eindringen. Wenig später wurde das
Internet offenbar repariert, und wir
begannen, auf Telegram zu schreiben.
Telefonieren konnten wir nicht – das
hätte sie und ihre Kollegen in Gefahr
gebracht.
Ich erfuhr erst Ende März, dass sie
im Stahlwerk ist. Wann sie dort an-
kam, weiß ich nicht. Ich habe versucht
herauszufinden, wo genau sie sich im
Werk aufhält, aber man erklärte mir,
dass es ihr schaden könnte, wenn ich
ihre Position kenne. Also habe ich
aufgehört zu fragen.
Bis vor Kurzem versicherte mir
Mama, dass sie genug Nahrung und
Wasser hätten. Aber heute hat sie
geschrieben, dass beides zur Neige
geht. Das war zu erwarten, denn die
Kanäle, über die sie einst Nachschub
bekamen, gibt es nicht mehr. Früher
oder später werden ihre Vorräte en-
den. Von Anfang an war das Werk
ohne Wasser. Mama hat ihre Haare
mit Regenwasser gewaschen. Alle
zwei Wochen konnte sie auch ihren
Körper reinigen.
Sie sagt nicht, wie viele Menschen
um sie herum sind. Aber aus dem,
was ich höre, schließe ich, dass es
einen gemeinsamen Raum für Frauen

und Männer gibt, wo sie auch schla-
fen. In einem anderen Zimmer wer-
den Verletzte versorgt.
Wenn ich es richtig verstehe, ver-
lässt nun niemand mehr das Werk,
weil sie pausenlos bombardiert wer-
den. Vom Meer und aus der Luft.
Nach meinem Verständnis gibt es
irgendwo auf dem Gebiet des Werks
ein Krankenhaus, aber es hat nur
wenige Plätze. Sobald es jemandem
besser geht, bringt man ihn in den
Bunker zurück. Dort wechselt meine
Mutter dann die Verbände.«

SERGEJ POLUCHIN
ehemaliger Brigadier im Schienenwerk

Poluchin, 60, arbeitete 27 Jahre lang
im Stahlwerk. Der SPIEGEL hat ihn
diese Woche in der Gegend von
Tscherniwzi im Westen der Ukraine
telefonisch erreicht.

»Meine ganze Familie ist Asow-Stahl
sehr verbunden. Im vergangenen Jahr
hat der Mutterkonzern Metinvest
einen Preis an uns verliehen, weil es
16 Mitglieder unserer Familie bei
Asow auf insgesamt 285 Dienstjahre
gebracht haben. Ich selbst habe von
1984 bis 2011, also 27 Jahre lang, bei
Asow-Stahl gearbeitet. Angefangen
habe ich direkt nach meinem Wehr-
dienst in Afghanistan.
Ich bin Elek tri ker und war als Bri-
gadier im Schienenwerk für 20 Arbei-
ter verantwortlich. Wir haben dort
rund um die Uhr Schienen und
Schwellen hergestellt. Asow-Stahl
verfügt ja selbst über ein großes
Schienennetz. Es gab 50 Lokomoti-
ven. Ich habe da auch zwei meiner
Söhne angelernt.
In unserem Teilwerk waren
2000 Arbeiter beschäftigt. In jeder
Schicht arbeiteten 300 Leute. Es gab
auf dem Gelände zwei Bunker, jeweils
mit zwei Zugängen, mit Toiletten,
Versorgungsräumen, Bänken. Zu mei-
ner Verantwortung gehörte es, einen
dieser Bunker regelmäßig auf Funk-
tionstüchtigkeit zu prüfen: den 40-Ki-
lowatt-Generator, die Beleuchtung
und die Belüftung. Der Generator
hatte eine Füllkapazität von zehn bis
zwölf Litern.
Es gab einen großen Dieseltank,
der stets gefüllt war mit vielleicht
100  Liter Kraftstoff. Auch an fünf
oder sechs große, gefüllte Wasser-
tanks erinnere ich mich, Kapazität
jeweils eine Tonne.
Ich erinnere mich, dass es neben
diesem Bunker auch ein unterirdi-
sches Auditorium gab, einen Ver-

Asow-Stahl-Gebäude
nach Bombenangriff:
»Mir fehlt die
Luft zum Atmen«

Polizist Werschinin

Alexander Ermochenko / REUTERS
Free download pdf