Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
REPORTER

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 53

sammlungsort für die Eingeschlossenen. Bis
2014 hat man sich kaum um die Bunker ge-
kümmert, aber dann wurde in Mariupol ja
gekämpft. Deshalb wurden auch die Bunker
wieder gewartet. Das hat mir mein Sohn Sta-
nislaw erzählt, er hat nach meinem Abschied
weiter im Werk gearbeitet.
Ich weiß, dass die Arbeiter des Werks alle
nach dem 24. Februar evakuiert worden sind.
Als der Beschuss der Stadt später zunahm,
wurden die Werktore geöffnet, und die Men-
schen strömten auf das Gelände. Vielleicht
liegt zu viel Aufmerksamkeit auf den Bun-
kern, der Untergrund von Asow-Stahl besteht
ja aus wesentlich mehr: vielen, vielen Kilo-
metern Kabelschächte und Wasserleitungen,
in Lagen übereinandergeschichtet, jeweils
zwei bis drei Meter hoch und breit.«


MICHAIL WERSCHININ
Leiter der Streifenpolizei im Bezirk Donezk

Wo sind Sie verletzt?
In der linken Schulter. Ich wurde hier
im Krankenhaus von Asow-Stahl operiert,
wurde genäht.
Wie viele Zivilisten sind vor Ort?
Das können wir nicht sagen, weil wir
sie nicht kontrollieren. Sie leben unabhän-
gig in mehreren Gemeinschaften.
Während des Beschusses herumzulaufen
und Listen von Zivilisten anzufertigen
ist unsinnig. Hier sind Kinder und kleine
Babys. Auch die Zahl von Verwundeten
ist momentan unklar.
Welchen Anteil hat das Asow-Regiment
konkret an der Gesamtkampfkraft der
Verteidiger?
Diese Information ist geheim.
Was sind das für Menschen, die sich auf
dem Gelände verstecken?
Darunter sind Verwandte der Militärs,
Bürger des linken Ufers, Arbeiter der
Fabrik. Also – alle sind hier.
Haben Sie eine Liste von Forderungen an
die internationale Gemeinschaft?
Wir sind nicht in einer Position, Forderun-
gen zu stellen. Aber was hier in Asow-Stahl
passiert, im 21. Jahrhundert, in einem euro-
päischen Land, ist Blasphemie gegenüber
allen Prinzipien demokratischer Staaten. Es
ist ein Verstoß gegen alle konstitutionellen
Normen, alle moralischen Prinzipien. Wir
stellen keine Forderungen, sondern bitten
die Gemeinschaft, die Menschen hier raus-
zuholen – jetzt.
Wie fühlen Sie sich gerade?
Wie jemand, der gegen eine Wand schlägt,
eine sehr dicke Wand, und ich komme ein-
fach nicht durch. Ich schlage und schlage
und pralle zurück. Wir haben viele Nach-
richten gesendet, doch bisher gab es keine
Antwort. Nichts. Wenn wir wenigstens die
Evakuierung von Zivilisten, die Evakuie-
rung von Verwundeten beginnen könnten.
Das muss geschehen. Verwundete gelten


nicht als Kämpfer, und hier sind so viele
von ihnen. Wenn das passiert, kommen wir
unseren Wünschen einen großen Schritt
näher. Das wäre großartig.
Ist es möglich, mit Zivilisten in Asow-Stahl
zu sprechen?
Es gibt überhaupt keine Verbindung zum
Internet. Nur an bestimmten Orten. Zivilis-
ten haben überhaupt keine Verbindung.
Einen Zivilisten an einen Ort mitzuneh-
men, wo es Handyempfang gibt, ist extrem
gefährlich, weil an sieben Tagen 24 Stunden
lang bombardiert und geschossen wird.
Kurze Momente der Stille werden von
Bombardierungen aus der Luft unterbro-
chen. Deswegen können wir das nicht
organisieren. Sie werden mit diesen Men-
schen sprechen können, wenn sie hier
herauskommen, so Gott will.

LESJA
Informatikerin

»Manchmal hat Mama kurz Internet, dann
schreibt sie sofort. Beim letzten Mal war sie
völlig verzweifelt. Sie schrieb: ›Jeder hier ist
wie ein Zombie, es ist schrecklich.‹
Ich habe einen Psychologen gefragt, wie
ich Mama beruhigen kann, auch wenn wir
einander nur schreiben. Er hat mir geraten,
ihr kleine Aufgaben zu geben, auf die sie sich
konzentrieren soll. Zum Beispiel: Finde drei
rote Dinge im Zimmer oder such vier quadra-
tische Objekte. Ich habe ihr dann die Aufga-
be gegeben, ihren Bunker zu fotografieren.
Das hat sie bereitwillig gemacht. Ich stelle die
Fotos auf Facebook, damit die Welt sieht, wie
schlecht es den Menschen in Asow-Stahl geht.
Mama fragt ständig, wann man sie retten
wird. Oder ob es Pläne gebe, die Blockade
des Stahlwerks zu durchbrechen. Sie sagt, im
Moment werde das Stahlwerk ununterbro-
chen bombardiert, sie höre es deutlich. Sie
fürchtet sich auch vor Chemiewaffen. Sie hat
Angst, dass man die Zivilisten evakuiert – und
die anderen Militärangehörigen umbringt.
Für die Russen ist die Asow-Einheit in dem
Werk wie eine Trophäe. Sie sehen in ihr den
›Kern des Nazismus‹, und sie werden nicht
ruhen, bis die Kämpfer tot sind. Meine Mutter
weiß das. Seit Montag oder Dienstag hat der
Beschuss noch einmal stark zugenommen. Die
Russen begannen, schwere Bomben aus der
Luft abzuwerfen. Meine Mutter und ihre Kolle-
gen haben den Befehl bekommen, jetzt rund um
die Uhr Helm und eine Schutzweste zu tragen.
Jede Nachricht von meiner Mutter ist wich-
tig für mich. Aber am schönsten war, als sie
mir im März, nach einer Woche des Schwei-
gens, schrieb: ›Ich lebe.‹ Sie hat mir am

5. April sogar zum Geburtstag gratuliert. Das
war für mich sehr wertvoll.«


OLENA
Sanitätssoldatin

Lesjas Mutter Olena, 57, wurde am 26. Febru-
ar, vor mehr als 60 Tagen, in die Katakomben
von Asow-Stahl abkommandiert. Sie kom-
munizierte mit dem SPIEGEL am Mittwoch.

»Wir haben im Moment noch Wasser, aber
sehr wenig Nahrung. Die Straßen liegen in
Trümmern, Russland bombardiert alles. Es
gibt kein Internet, weil die Masten getroffen
wurden. Die Stimmung ist am Boden. In unse-
rem Bunker gibt es noch Licht, aber in ande-
ren nicht mehr. Sie haben auch keine Lebens-
mittel mehr oder Medikamente. Es ist stickig
und feucht, mir fehlt die Luft zum Atmen.
Ich habe Angst vor den Nächten, denn
dann ist der Beschuss am schlimmsten. Wir
können uns nicht mehr verteidigen. Ich spüre
Angst und Hoffnungslosigkeit.«

Stahlwerk Asow-Stahl:
Verschanzung ukrainischer
Zivilisten und Soldaten

Mariupol ist
vollständig
umstellt.

Bombardement des
Theaters am . März

Russische Truppen rücken
von allen Seiten in die
Stadt vor.

russische
Truppen-
bewegungen


  1. März

  2. März

  3. April


Mariupol

UKRAINE

Eingekesselt


S◆Quellen: Rochan Consulting, Institute for the Study of War
and Critical Threats Project

Verlauf der Belagerung
von Mariupol
Vormarschgebiete der
russischen Armee

Ullrich Fichtner, Nikita Ilchenko, Katja Lutska,
Alexandra Rojkov, Thore Schröder n
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