Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
REPORTER

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 55

I


ch stand in der Frühlingssonne
auf dem Platz hinterm Berliner
Hauptbahnhof und schlug die hal-
be Stunde bis zur Abfahrt meines Zu-
ges tot. Ich komme in letzter Zeit oft
zu früh. Früher war ich immer zu spät.
Es ist das Alter, fürchte ich. Ich kriege
bald diesen flackernden Blick, den ich
von meiner Mutter kenne. Müssen wir
nicht langsam los? Auf dem Platz hin-
term Hauptbahnhof parkte ein roter
Vodafone-Truck, an dem eine ukrai-
nische Fahne wehte, mit Vorzelt. Auf
Pappschildern stand in kyrillischer
Schrift »SIM-Karta« und »besplatna-
ja«, was kostenlos heißt.
Mir fiel ein Witz ein, den Lord
Knud beim Rias Berlin erzählte, als
ich ein Kind war. »Houston. Die Rus-
sen haben den Mond rot angestri-
chen!«, ruft da jemand. »Okay«, ant-
wortet Houston. »Wir haben eine
Rakete hochgeschickt und schreiben
Coca-Cola drauf.«
Vorige Woche habe ich einen net-
ten Mann getroffen, der ein Ukraine-
fähnchen am Revers trug wie ein Par-
teiabzeichen. Ich dachte gleich an die
USA-Anstecknadeln, die nach dem



  1. September in Amerika populär
    wurden, besonders bei Politikern. Ir-
    gendwann steht man morgens vor
    dem Spiegel und fragt sich: Kann die
    Nadel wieder ab? Ist jetzt der Tag
    gekommen, an dem ich nicht mehr
    solidarisch bin mit dem ukrainischen
    Volk?
    Ich sollte das nicht denken, bei all
    dem Schrecken, aber ich habe Schwie-
    rigkeiten, »Hilfe« und »Vodafone« in
    meinem Kopf zusammenzukriegen.
    Ich versuche seit Langem, einen Ver-
    trag für ein iPad zu kündigen, das ich
    meiner Mutter vor acht Jahren ge-
    schenkt habe. Meine Mutter hat jetzt
    WLAN. Vor zwei Jahren steckte sie
    ihre SIM-Karte in ein Kuvert und
    schrieb »SIM-Karte zurück!« drauf.
    Sie gab mir das Kuvert, damit war die
    Sache für sie erledigt. Für mich leider
    nicht. Die Firma Vodafone buchte
    weiterhin monatlich ab. Meine Frau
    forderte mich mehrfach auf, das in
    Ordnung zu bringen.


»Es ist unser Konto«, sagte ich.
»Es ist deine Mutter«, sagte sie.
Ich telefonierte zweimal mit Mit-
arbeitern von Vodafone, kündigte
zweimal. Beide waren sehr verständ-
nisvoll. Beide Male passierte anschlie-
ßend nichts.
»Du hast es wieder mal geschafft«,
sagte meine Frau. »Ich mach es!«
Sie redete mit einem freundlichen
Mitarbeiter, der ihre Kündigung so-
fort akzeptierte. Es passierte wieder
nichts. Als sie sich beschwerte, gab ihr
ein anderer Mitarbeiter eine E-Mail-
Adresse, an die sie die Kündigung mai-
len sollte. Sie bekam eine Mail zurück,
die mitteilte, dass die Kündigung nicht
akzeptabel sei. Sie solle sich an die
Hotline wenden. Jemand sagte ihr,
dass Kündigungen nur schriftlich
funktionierten. Auf Papier. Sie schrieb
einen Brief. Sie sollten »Hotel Cali-
fornia« in der Warteschleife der Hot-
line laufen lassen: »You can check out
any time you like, but you can never
leave.«
Aus diesen Gedanken riss mich
Irina, eine alte ukrainische Bekannte,
die ich seit Jahren nicht gesehen hat-
te, obwohl wir beide in Berlin leben.
Sie arbeitet eigentlich für eine NGO,
macht aber im Moment viel Fern-
sehen. Sie erzählte mir, dass sie ihre
Mutter gerade aus der Ukraine ge-

rettet hätte und auch wie schrecklich
eine Solidaritätsshow der ARD sei,
für die sie vor ein paar Tagen gearbei-
tet hatte. Es gehe vor allem darum,
dass sich die Deutschen besser fühlen.
Dann lief sie zu einem RTL-Team, mit
dem sie verabredet war, und ich muss-
te zum Zug.
Zwei Wochen später buchte Voda-
fone 15,48 Euro von meinem Konto
ab. Das war ein knappes Drittel der
Summe, die sie früher genommen
hatten. Ich rief die Hotline an. Ein
freundlicher Mann wollte die letzten
vier Nummern meiner Kontonummer
wissen. Als ich ihm die sagte, gratu-
lierte er mir: »Die meisten Kunden
können die nicht auswendig.« Er-
staunlicherweise fühlte ich mich ge-
schmeichelt.
Den Grund für die neue Abbu-
chung konnte er nicht finden. »Das
ist noch nicht eingepflegt«, sagte er.
»Einpflegen« ist ein Wort, das mich
verunsichert. Meine Artikel werden
seit Jahren in Systeme eingepflegt.
Ich habe immer den Eindruck, da geht
was verloren. »Wir haben ja verschie-
dene Abteilungen«, sagte der Mann
abschließend. Schön. Meine Frau hat-
te inzwischen herausgefunden, dass
es sich immer noch um das iPad mei-
ner Mutter handelte. Ich rief die Hot-
line an. Diesmal war Frau Reinhard
am Telefon.
»Das ist der Basispreis«, sagte Frau
Reinhard.
Basis wovon?, fragte ich.
»Tarifpreis«, sagte Frau Reinhard.
Dann: »Datenkarte.« Sie warf mit
Wörtern um sich.
Was denn für eine Datenkarte?,
fragte ich.
»Sie haben doch eine Datenkarte«,
sagte Frau Reinhard, als würde sie
mit einem sehr alten Mann sprechen.
Meine Frau sah mich fragend an: und?
Frau Reinhard spuckte weitere Wör-
ter aus. »Anteilig.« »Abschluss.«
»Rücklastschrift.« Irgendwann sagte
sie: »Wenn alles glatt über die Bühne
geht, war das die letzte Rechnung.«
Ich lächelte meine Frau an, als hät-
te ich mehr bekommen als ein weite-
res Versprechen. Abends sah ich die
deutsche Verteidigungsministerin im
»heute journal«. Sie sagte: »Ring-
tausch.« »Enge Abstimmung mit den
Verbündeten.« »Stand der Vorkennt-
nisse.« Irgendwann sagte sie: »Wir
geben die Zusage zur Prüfung.« Wenn
man die Augen schloss, klang die
deutsche Verteidigungsministerin
ganz genauso wie Frau Reinhard von
der Vodafone-Hotline.
Ich hoffe, die ukrainischen Flücht-
linge unterschreiben keine Telefon-
verträge. n

Wenn man die
Augen schloss,
klang die
Verteidigungs-
ministerin, als
würde sie für
ein Call center
arbeiten.

Hotline des Friedens


LEITKULTUR Alexander Osang fragt sich, ob Netzanbieter wirklich
solidarisch sein können.

Vodafone-Stand
am Berliner
Hauptbahnhof

Alexander Osang / DER SPIEGEL
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