Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

6 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.


Diplomatie


und Härte


sind kein


Widerspruch,


sie befruchten


sich.


A


m Ende glich das Treffen auf der US-Airbase in
Ramstein einer Zeugnisverleihung: Die Fleißigsten
wurden mit Lob bedacht. Deutschland sei ein groß-
artiger Freund, der alles tue, was er tun könne, um die
Ukraine zu unterstützen, sagte US-Verteidigungs minister
Lloyd Austin. Es war nicht nur der Dank für das Ansinnen
der Deutschen, Panzer in die Ukraine zu liefern, sondern
auch die höfliche Umschreibung eines Seufzers: Endlich
habt ihr es begriffen!
Die USA choreografieren die Anti-Russland-Politik in
diesem Krieg. Sie sind Taktgeber bei den Waffenlieferun-
gen, laden zur Ukrainekonferenz nach Deutschland ein,
sorgen mit ihrem Arsenal an Nuklearwaffen für die nötige
Abschreckung gegen die Atommacht Russland. Vor allem
aber haben sie das Kriegsziel des Westens formuliert: »Wir
wollen, dass Russland so weit geschwächt wird«, so Austin,
»dass es zu etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht
mehr in der Lage ist.« Amerika hat einen Plan, ein Ziel.
In Europa dagegen hört man vor allem die Sorge, dass
man in diesen Krieg hineingezogen werden könnte. Und
statt neuer Ideen nur die Versicherung, man werde keinen
Alleingang unternehmen. Europa hat weder einen Plan
noch ein Ziel, und Olaf Scholz wirkt nur getrieben.
Man stelle sich vor, der US-Präsident hieße noch immer
Donald Trump. Er hätte wohl längst die Nato verlassen
und die Antwort auf Putins Aggression anderen über-
lassen, eine Erschütterung Europas käme ihm gelegen.
Putin würde einen Erfolg nach dem anderen feiern, weil
Europa nicht scharf reagieren könnte, wie jetzt die USA.
Es gibt keine Prognose, wie lange das Land noch bereit
ist, die Rolle des globalen Retters zu spielen, die nächsten
Präsidentschaftswahlen finden 2024 statt. Spätestens bis
dahin muss Europa begonnen haben, ein starkes Vertei-
digungs- und Abschreckungsregime zu errichten, gegen

die nächste Aggression eines Weltbrandstifters, der noch
sehr lange Wladimir Putin heißen könnte.
Die Zeit für diesen Schritt ist günstig: Emmanuel Ma-
cron hat in Frankreich eine schwierige Wahl gewonnen,
er kann sich nun seinem Herzensprojekt Europa widmen.
Scholz hat mit seiner Rede zur Zeitenwende den richtigen
Impuls gesetzt, nur muss er den Begriff noch füllen, ins-
besondere mit harten Wahrheiten. Wie der, dass Deutsch-
land in Selbstverteidigung und Erfüllung der Nato-Pflich-
ten bislang keine gute Note im Zeugnis vorweisen kann.
Frankreich und Deutschland waren einmal der Motor
Europas, Macron und Scholz sollten zum Treiber einer
europäischen Zeitenwende werden, gemeinsam mit den
osteuropäischen Staaten, die bislang sträflich ignoriert
wurden, man denke nur an Nord Stream 2. Ein erstes
Symbol für den europäischen Aufbruch müsste eine ge-
meinsame Reise nach Kiew sein.
Dieser Krieg hat Gewissheiten begraben und neue ge-
schaffen. Wer einen imperialen Aggressor wie Putin be-
kämpfen will, darf nicht auf Deeskalation setzen. Sie führt
zu noch mehr Aggression, nur glaubwürdige Abschre-
ckung wirkt. Und: Diplomatie und Härte sind kein Wider-
spruch, sie befruchten sich. Kriegstreiber wie Putin lassen
sich erst unter höchstem Druck auf Friedensangebote ein.
Es gilt wieder, was 1967 der belgische Außenminister
Pierre Harmel als Losung ausgegeben hat: Erfolgreiche
Verhandlungen werden nur vor dem Hintergrund eines
gesicherten militärischen Gleichgewichts geführt. Die
Regeln des Kalten Krieges sind zurück, so bitter das ist.
Die Bundeswehr mit schwerem Gerät auszustatten ist
ein richtiger Schritt. Er muss eingebunden werden in ein
europäisches Verteidigungskonzept, das auch die heikels-
te Frage behandelt: die der atomaren Abschreckung. Bis-
lang stehen 6000 russische Atomsprengsätze 300 fran-
zösischen entgegen. Entweder Frankreich weitet seinen
Schutzschirm aus, oder Europa entwickelt ein eigenes
nukleares Abschreckungssystem. Es klingt wie eine Dys-
topie. Sie aber nicht zu denken wäre fahrlässig.
Die Debatte über eine neue europäische Friedensord-
nung ist schwer zu führen, solange der Krieg nicht ent-
schieden ist. Dennoch muss sie begonnen werden, will
Europa nicht so unvorbereitet in die nächste Krise stolpern
wie in diese. Dazu gehört die Frage, wie viel Einfluss wir
Russland in Zukunft noch gewähren.
Die Amerikaner wollen ihn minimal halten, aus wirt-
schaftlichen und geopolitischen Gründen. Europa, dessen
Wirtschaft und Kultur bislang eng mit Russland verwoben
waren, hat andere Interessen. Braucht es am Ende nicht
nur einen Wiederaufbauplan für die Ukraine, sondern
auch einen für Russland? Oder muss Europa versuchen,
das Land so lange in die Knie zu zwingen, bis Putin fällt,
bei allem Leid, was dies für die Bevölkerung bedeutet?
Man muss diese Fragen jetzt denken und diskutieren.
Und nicht auf eine Zeit hoffen, die nicht wiederkommt.
Martin Knobbe n

Zeitenwende? Ja, aber europäisch


LEITARTIKEL Nicht die USA sollten zu Waffenlieferungen motivieren und über die künftige Rolle Russlands


entscheiden, sondern die EU-Länder und ihre Nachbarn.


US-Präsident
Joe Biden im März
in einer Video-
konferenz mit dem
französischen
Präsidenten
Emmanuel Macron,
dem britischen
Premierminister
Boris Johnson
und Bundeskanzler
Olaf Scholz


Adam Schultz / AP
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