Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

WIRTSCHAFT


60 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


leiden wiederum unter den Störungen in den
Lieferketten. Mal hängen Schiffe mit Rotor-
blättern in chinesischen Häfen fest. Mal ver-
zögern sich Produktion oder Lieferung von
Stahlplatten oder Computerchips. Lenk for-
dert, dass die Politik nun auch die Zulieferer
unterstütze.
In der Solarbranche ist die Lage ähnlich.
Dort stammen inzwischen weltweit 76 Pro-
zent des Vorprodukts Polysilizium, 96 Pro-
zent der daraus gefertigten Wafer sowie
78 Prozent der damit produzierten Zellen aus
China. »Die Bundesrepublik hat entlang der
ganzen Wertschöpfungskette Marktanteile
verloren«, sagt Sebastian Nold vom Fraun-
hofer Institut ISE, »und das teilweise massiv.«
Umso dringender müsse die heimische Pro-
duktion wieder hochgefahren werden.
Das dürfte Jahre dauern. Denn auch neue
Fabriken brauchen funktionierende Liefer-
ketten. Bei Oxford PV in Brandenburg peilen
sie den Betriebsstart erst für Mitte 2024 an.
Derzeit fehlen sogar einfachste Bauteile, Ven-
tile für Vakuumvitrinen etwa. »Die bekommt
man gerade nur mit 52 Wochen Vorlauf«, sagt
Manager Averdung. Auch die georderten Ma-
schinen dürften sich verspäten, unter anderem
weil ihre Hersteller erst neuen Stahl auf-
treiben müssen. Bisher wurde der teils im
ukrainischen Mariupol gefertigt, das Russland
gerade in Schutt und Asche legt.
Die Probleme der Ökostromer hören da-
mit nicht auf, oft fehlt noch ein weiterer Er-
folgsfaktor: günstiges Kapital.
Oxford-PV-Chef Averdung etwa muss
gerade einen dreistelligen Millionenbetrag in
Euro für seine Fabrik einsammeln. Aus-
gerechnet bei der Europäischen Investitions-
bank (EIB), die Kredite für den Ökostromaus-
bau in der EU vergibt, holte er sich einen Korb.
»Die EIB wollte fast 20 Prozent Zinsen«, sagt
er, »das war jetzt keine große Hilfe.«
Grund war ausgerechnet die zukunftswei-
sende, aber im Markt eben noch unerprobte
Zelltechnologie, auf die die Firma setzt. Dut-
zende Firmen weltweit forschen am soge-
nannten Perowskit-Verfahren, das die Effi-
zienz der Zellen stark erhöht. Oxford PV ist
der Konkurrenz voraus und hält wichtige
Patente an der Technologie. Der EIB schien
das trotzdem zu unsicher.
»Würden wir mit unserer Fertigung nach
China gehen, würden uns dort manche Prä-
fekturen die komplette Fabrik stellen«, sagt
Averdung. »Das ist schon absurd.«
Der Zusammenbruch der deutschen Solar-
industrie wirkt am Kapitalmarkt bis heute
nach. Günstiges Geld bekommen auch ande-
re Firmen nur schwer. Dabei brauchte es
höchstens zehn Milliarden Euro, um Produk-
tionskapazitäten für jährlich 20 Gigawatt
Halbleiter, Zellen und Module aufzubauen,
schätzt Fraunhofer-Experte Nold. Für die Auf-
rüstung der Bundeswehr soll demnächst die
zehnfache Summe fließen.
Laut Staatssekretär Krischer mangelt es
nicht an politischem Willen für mehr Förde-
rung. Im Weg stehe vielmehr das EU-Wett-


bewerbsrecht. »Viele Fördermöglichkeiten
für die Wiederansiedlung von Industrie sind
dadurch schwierig.« Man werde sich dafür
einsetzen, dass die EU neue Ökostromanla-
gen als Vorhaben von gemeinsamem euro-
päischem Interesse (IPCEI) einstufe – so wie
jetzt schon die Batteriezellen. Der Staat könn-
te dann bis zu 50 Prozent der Investitions-
kosten von Ökostromfabriken übernehmen.
Die entsprechenden Genehmigungsverfahren
können allerdings Jahre dauern.
Solarmanager Averdung frustriert das.
»Was bringt es, in der EU die reine Markt-
lehre hochzuhalten, wenn wir mit planwirt-
schaftlichen Weltregionen wie China konkur-
rieren?«, fragt er. Oder mit den USA oder
Indien, die ebenfalls neue Förderprogramme
auflegen. Er erwägt inzwischen, seine Fabrik
in Großbritannien zu bauen.

Auch für die Projektierer von Wind- und
Solarparks machen die Unwägbarkeiten die
Planung enorm schwierig. Wie kalkulieren
mit den hohen Kosten, zumal unklar ist, wie
sich die Preise für Ökostrom entwickeln?
Die oberpfälzische Firma Ostwind hat
mehr als 600 Windkraftanlagen ans Netz
gebracht, auch im Solargeschäft ist sie aktiv.
Sie weiß also um die bürokratischen Geneh-
migungsodysseen in der Branche. Bis ein Pro-
jekt tatsächlich Strom produziere, dauere es
fünf bis sieben Jahre, heißt es bei Ostwind.
Das müsse der Staat nun entbürokratisieren.
Für einen schnelleren Ausbau aber braucht
die Firma neue Fachkräfte. Viele Mitarbeiter
haben längst die Branche gewechselt, eine
Folgewirkung der Altmaier-Delle.
Laut einer Analyse des Kompetenzzen-
trums Fachkräftesicherung mangelt es in fast
allen Segmenten, die für erneuerbare Ener-
gien gebraucht werden, an Personal – in Bau-
elektrik und Klimatechnik, Bauplanung und
-überwachung, Softwareentwicklung und
Handwerk. Die ökologische Transformation
werde dadurch langsamer und teurer, gesteht
das Wirtschaftsministerium in einem internen
Planungspapier ein.
Hinter den Kulissen versuchen Habecks Leu-
te nun, auf das Bundesarbeitsministerium einzu-
wirken, das gerade die Strategie zur Gewinnung
von Fachkräften überarbeitet. Es müsse stär-
kere Anreize geben, damit mehr Menschen an
der Energiewende mitarbeiten, sagte Habeck
auf dem Industriegipfel Mitte April.
Die To-do-Liste des Ministers wird täglich
länger. Habecks Leute sollen bei der Beschaf-
fung von Rohstoffen helfen, Programme der
KfW ausweiten, Genehmigungsverfahren für
Fabriken beschleunigen und bürokratische
Hemmnisse abbauen, vor allem bei der Ver-
gabe neuer Flächen für Ökostromanlagen.
Umweltökonom Matthes hält die Umsetzung
dieser Punkte für zentral. »Solange es nicht
zu wirklich wirksamen Lösungen kommt,
können die Ausbauziele des Osterpakets nicht
erreicht werden.«
Fragt sich nur, wer all das machen soll.
Denn der Personalmangel betrifft auch das
Ministerium selbst. Zum Regierungswechsel
fanden Habecks Leute desolat ausgestattete
Erneuerbare-Energien-Abteilungen vor. Für
den Bereich Solar gab es gerade 1,5 Stellen,
für die Windenergie an Land 2. Gesetzes-
änderungen wie die Entbürokratisierung der
Fotovoltaik-Genehmigungsverfahren hätten
deshalb auf den Sommer verschoben werden
müssen, erzählen Insider. Habeck will die Ab-
teilungen eigentlich aufstocken. Er ist dabei,
eigene Referate für Fotovoltaik und Wind ein-
zurichten – kommt aber nur langsam voran.
»Es ist zäh, da etwas umzuschichten«, heißt
es im Haus. Man warte auf die Bewilligung
von 100 Stellen.
Und so ist der nächste ökologische Indus-
triegipfel erst für den Spätsommer geplant.
Bis dahin, so Habeck, werde sein Team »tief
in die einzelnen Sparten eintauchen«.
Claus Hecking, Stefan Schultz n

bis 2021 Nettozubau, ab 2022 geplanter Bruttozubau
S◆Quellen: Fraunhofer ISE, Bundesregierung

Gelingt der Kraftakt?


Jährlicher Zubau von Anlagen zur Erzeugung
erneuerbarer Energien in Deutschland,
Leistung in Gigawatt (Tausend Megawatt)

angepeilte installierte
Gesamtleistungen
2030:

115 GW 215 GW

5

10

15

20

2000 2030 2000 2030

Windkraft Fotovoltaik
auf dem Festland Planung

Planung

Gießereichef Geier

Marcus Simaitis / DER SPIEGEL
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