Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

WIRTSCHAFT


62 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


U


rsula von der Leyen wollte so gern
Stärke zeigen. Europa werde eine
»schnelle, geschlossene und koor-
dinierte Antwort geben«, versprach die
EU-Kommissionschefin am Mittwoch als
Reaktion auf Wladimir Putins Gascoup.
Kurz zuvor hatte Russland seine Drohun-
gen wahr gemacht und Polen und Bulgarien
den Gashahn zugedreht. Der Staatsmono-
polist Gazprom stellte seine Lieferungen um-
gehend ein. Begründung: Beide Länder hätten
sich geweigert, in Rubel zu bezahlen, so wie
es Putin neuerdings verlangt.
Europa sei auf »dieses Szenario vorberei-
tet«, versicherte von der Leyen. Die EU-Be-
hörden hätten in den vergangenen Monaten
daran gearbeitet, »alternative Lieferquellen«
und »die bestmöglichen Speichermengen für
die gesamte EU bereitzustellen«.


Es war eine schöne Botschaft, mit der Brüs-
sel auf Putins »Provokation« (von der Leyen)
reagierte – nur leider zu schön, um wahr zu
sein. Zur Beruhigung trugen die Worte der
Kommissionschefin denn auch kaum bei.
Ebenso wenig wie die von Bundeskanzler
Olaf Scholz hinterhergeschobene Versiche-
rung, die Deutschen wüssten schon, »was wir
tun müssen«, für den Fall eines abrupten Lie-
ferstopps. Stattdessen herrscht seit Mittwoch
Alarmstimmung in vielen EU-Hauptstädten.
Die zentrale Frage der vergangenen Wochen
wird mit neuer Dringlichkeit diskutiert:
Kommt Europa ohne russisches Gas durch
den Winter?
Statt einer Antwort hatten von der Leyens
Beamte schon vor Wochen ehrgeizige Ziele
ausgegeben. Bis Jahresende, versicherte EU-
Vizepräsident Frans Timmermans, würden

die Mitgliedstaaten zwei Drittel der russi-
schen Gaslieferungen ersetzen: durch Ver-
träge mit anderen Ländern, durch Einsparun-
gen und den Ausbau alternativer Energien.
Zugleich sollen sie ihre Speicher bis No-
vember auf 80 Prozent der Maximalkapazi-
tät befüllen, um notfalls auch ohne russisches
Gas über den nächsten Winter zu kommen.
Das sei »mörderisch schwer«, so Timmer-
mans, »aber möglich«.
Viele Experten sind da anderer Auffas-
sung: Beide EU-Versprechen lassen sich nicht
gleichzeitig erfüllen. Zumindest nicht, wenn
die EU ihren Gasimport so drastisch redu-
zieren will, wie Brüssel versprochen hat. Und
erst recht nicht, wenn es zu einem vollstän-
digen Gasembargo der EU oder einem euro-
paweiten Lieferstopp der Russen käme.
Lösbar wäre der Zielkonflikt nur durch
einen harten Schritt: Die EU müsste große
Teile der Wirtschaft im Frühling und Sommer
auf Gasentzug setzen – und zwar wochenlang.
Dies geht aus einem Berechnungsmodell
des Forschungszentrums Jülich hervor. Die
Wissenschaftler kommen zu dem Schluss:
Kappt Europa die russischen Lieferungen wie
angekündigt um zwei Drittel, ließen sich die
Speicher nicht ausreichend für den Winter
befüllen.
Mehr als 300 Terawattstunden Gas (rund
30 Milliarden Kubikmeter) müssten EU-weit
laut dem Modell des Instituts für Techno-öko-
nomische Systemanalyse in diesem Jahr ein-
gespart werden, das entspricht ungefähr

Ende der Träumereien


VERSORGUNG Die EU will unabhängig vom russischen Gas werden –


indem sie weniger importiert und ihre Speicher für den


Winter auffüllt. Doch Berechnungen zeigen: Beides zugleich geht


nur, wenn die Industrie auf Gasentzug gesetzt wird.


Tanker mit Flüssiggas: Mehr ist auf dem Weltmarkt nicht zu holen


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