Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
WIRTSCHAFT

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 63

einem Drittel des jährlichen Gasverbrauchs
ganz Deutschlands. Dies gilt selbst unter der
höchst optimistischen Annahme, dass sich die
Einfuhren von Flüssigerdgas (LNG) und Pipe-
linegas aus anderen Staaten noch einmal deut-
lich steigern ließen.
Ähnlich wie der deutsche Notfallplan Gas
sieht auch die europäische SoS-Verordnung
vor, dass »geschützte« Kunden, allen voran
Privathaushalte, aber auch soziale Dienste
wie etwa Krankenhäuser oder Fernwärme-
produzenten, vorrangig versorgt werden müs-
sen. Einsparen ließe sich also nur bei den
Unternehmen, die Gas für ihre Produktion
oder als Brennstoff für Kraftwerke benötigen.
Unter den Annahmen der Forscher müss-
te sämtlichen Stahlhütten, Chemiefabriken
oder Zementwerken in der EU von jetzt bis
Ende Juli das Gas abgedreht werden – und
Gaskraftwerken fast den gesamten Juli lang.
Nur so ließe sich das Zwischenziel der EU
erreichen, die Speicher bis zum 1. August zu
63 Prozent zu füllen. Im Oktober wären laut
Modell dann nochmals Kappungen für die
Industrie notwendig, um den 80-Prozent-Pe-
gel bis zum 1. November zu erreichen.
»Wenn die Speicher entsprechend der ge-
planten Vorgaben aufgefüllt und zugleich die
Lieferungen aus Russland derart stark gekürzt
werden sollen, geht das nur mit deutlichen
Einschränkungen für die Industrie und die
Kraftwerke«, sagt Jochen Linßen, Professor
am Forschungszentrum Jülich, der das Modell
mitentwickelt hat.
Die Abriegelungen könnten auch gestreckt
werden, unter der Voraussetzung, dass das
Zwischenziel im August ignoriert würde.
Ebenfalls möglich: den Kraftwerken mehr
Gas entziehen, der Industrie dafür weniger.
Oder doch private Endverbraucher abschal-
ten, wie manche Konzernvertreter inzwischen
fordern. E.on-Aufsichtsratschef Karl-Ludwig
Kley etwa mahnte diese Woche an, die Indus-
trie müsse vorrangig versorgt werden.
Egal wie: 30 Milliarden Kubikmeter müss-
ten so oder so bis zum November eingespart
werden.
Der von Timmermans angekündigte EU-
Verzicht auf rund 100 Milliarden Kubikmeter
russisches Gas lässt sich weder durch zusätz-
liches Pipelinegas aus Norwegen, Algerien
oder Aserbaidschan kompensieren noch
durch eine weitere Erhöhung der LNG-Men-
ge, etwa mithilfe von Tankern.
Schon jetzt importiert Europa Rekordmen-
gen an Flüssigerdgas. Zu 61 Prozent sind die
Terminals seit Jahresanfang ausgelastet. Mehr
als 75 Prozent, wie im Modell angenommen,
sind kaum realistisch. Die meisten freien Ter-
minalkapazitäten gibt es noch in Spanien.
Von dort aber lässt sich das Gas kaum nach
Mitteleuropa weiterleiten: Die Pipelines über
die Pyrenäen sind zu klein.
Und LNG wird knapp. Das weltweite An-
gebot an Flüssigerdgas wächst in diesem Jahr
höchstens um 30 Milliarden Kubikmeter – das
legen Untersuchungen des Energiemultis
Shell und andere Prognosen nahe. Nur die


USA können ihre Produktion signifikant stei-
gern. Die zusätzlichen 15 Milliarden Kubik-
meter, die US-Präsident Joe Biden den Euro-
päern für dieses Jahr versprochen hat, sind
schon zu einem Großteil geliefert worden.
Viel mehr ist auf dem Weltmarkt nicht zu
holen. Katar etwa – das in etwa so viel LNG
wie die USA exportiert – verkauft laut dem
Marktexperten Casimir Lorenz vom Be-
ratungshaus Aurora Energy Research rund
80 Prozent seiner Produktion in langfristigen
Lieferverträgen. Das meiste davon geht in
den Fernen Osten.
Daran ändert zunächst auch die »Energie-
partnerschaft« wenig, die Bundeswirtschafts-
minister Robert Habeck bei seinem Besuch
im Emirat verkündet hat. Und das erste
schwimmende LNG-Terminal vor der deut-
schen Küste bei Wilhelmshaven wird frühes-
tens zum Jahresende in Betrieb gehen: zu
spät, um die Speicher vor dem Beginn der
kommenden Heizsaison zu füllen. Gleiches
gilt für Maßnahmen wie den Ausbau der er-
neuerbaren Energien oder die Laufzeitver-

längerung von Kernkraftwerken, wie sie der
EU-Kommission vorschweben.
Zwar sind die deutschen Gasreservoirs
mittlerweile wieder zu rund einem Drittel
voll. Von den im neuen Gasspeichergesetz
vorgesehenen Mindestständen ist das indes
weit entfernt. Hierzulande sollen am 1. No-
vember nicht nur 80, sondern sogar 90 Pro-
zent erreicht sein. Davon wollen Bundeswirt-
schaftsministerium und Bundesnetzagentur
bisher nicht abrücken.
Wenn Deutschland die Speicher nicht bis
zum Herbst vollbekommt, ist die Nation in
Putins Hand, das ist die Angst in Berlin und
bei den Netzwächtern in Bonn. Dann wäre
der Staat erpressbar: Der Mann in Moskau
könnte jederzeit drohen, den Gashahn im
Winter ganz zuzudrehen. Schlimmstenfalls
könnten Millionen Deutsche ihre Wohnungen
nicht mehr heizen. Das Horrorszenario, dass
sie sich am Ende in Turnhallen und anderen
Gemeinschaftsräumen aufwärmen müssen,
wollen die Verantwortlichen unter allen Um-
ständen vermeiden.
Dafür aber brauchen sie vorerst: russisches
Erdgas.
Wirtschaftsminister Habeck warnt deshalb
seit Beginn des Krieges eindringlich davor, über-
hastet ein Gasembargo auszurufen. Um die
Speicher weiter zu füllen, will der Ressortchef
in diesem Sommer zumindest die Gaskraftwer-
ke für die Stromproduktion ab schalten – auf
Kosten des Klimas. Denn übernehmen müssen
Stein- und Braunkohlekraftwerke. Dass das
nicht reichen wird, weiß auch Habeck.
Nach Putins Machtdemonstration in Polen
und Bulgarien steht nun die Frage im Raum,
ob sich Regierung und Konzerne auf die Be-
dingung des Kremlchefs einlassen sollen, für
die Gaszahlungen ein Rubelkonto bei der
russischen Gazprombank zu eröffnen. Noch
ist nicht einmal allen Beteiligten klar, ob dies
überhaupt möglich wäre, ohne die westlichen
Sanktionsbestimmungen zu verletzen.
Die EU-Kommission ließ dazu am Don-
nerstag wissen, Eurozahlungen auf die russi-
sche Bank stünden im Einklang mit den Sank-
tionsregeln. Nicht aber das von Putin eben-
falls geforderte Rubelkonto, über das die
Gazprombank Euro im Auftrag der Energie-
kunden in Rubel tauscht. Dieser Vorgang be-
ziehe die russische Zentralbank mit ein, die
von der EU sanktioniert wird.
Dass Timmermans’ Ziel erreicht werden
kann, bis Jahresende zu zwei Dritteln auf rus-
sisches Gas zu verzichten, glaubt offenbar
nicht einmal der Rat der EU-Mitgliedstaaten.
Der hat in seinen zahlreichen Beschlüssen zur
Energiefrage bis heute keine der Zahlen be-
stätigt, die von der Kommission ausgegeben
worden sind, weder zu den Importkürzungen
noch zu den Speicherständen, sondern ledig-
lich erklärt, die »Abhängigkeit von russischem
Gas so bald wie möglich« zu beenden.
Das ist nicht gerade das stärkste Signal.
Aber realistisch.
Claus Hecking, Michael Sauga,
Gerald Traufetter n

* Annahmen: Reduzierung des Gaseinkaufs aus Russland um
6 7%, Erhöhung der Pipeline-Gasimporte aus anderen Ländern
um 6 Mrd. Kubikmeter in 2022, höhere Auslastung der LNG-
Kapazitäten (75% statt 61% im bisherigen Jahresverlauf),
moderate Nachfragereduzierungen
S◆Quelle: FZ Jülich, Stand 27. April

Bedrohte Industrie


Beispielrechnung zur Erreichung der
angestrebten Füllstände der EU-Gasspeicher
bis Ende 2022*, Gasverbrauch in
Tausend Megawattstunden pro Stunde

Geplante Füllstände der EU-Gasspeicher,
in Millionen Megawattstunden

Abschaltung der Gasversorgung

Indus trie
Sonstiges

Kraf t-/Heizwerke Haushalte

Ziel am 1. November: 80%

Stillstand für Industrie und
zeitweise auch Kraft-/Heizwerke

Zwischenziel
am 1. August:
63%

Jan. April Juli Okt.

Jan. April Juli Okt.

400

800

400

800

Schlimmstenfalls können
Millionen Deutsche
ihre Wohnungen nicht
mehr heizen.
Free download pdf