Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

WIRTSCHAFT


64 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


C


hristian Haub zögerte nicht lange. An-
fang März, kurz nach Putins Invasion
in der Ukraine, trat der Tengelmann-
Chef den Rückzug aus Russland an. 27 Filia-
len der Baumarkt-Tochter Obi wurden erst
geschlossen, dann an einen russischen Inves-
tor übergeben. Der Schritt sei »moralisch ge-
boten« gewesen, sagt Haub. »Die Beziehun-
gen mit Russland sind dauerhaft beschädigt,
das Kapitel ist für uns abgeschlossen.«
Ganz anders hat sich Haubs Wettbewerber
Metro entschieden. Der Großhändler betreibt
seine 93 Märkte trotz des Ukrainekriegs wei-
ter. Man müsse auf die 10 000 Mitarbeiterin-
nen und Mitarbeiter vor Ort Rücksicht neh-
men und wolle die Bevölkerung mit Nahrung
versorgen, argumentiert der Konzern.
Andere, wie der Autozulieferer Continen-
tal, haben ihr Russlandgeschäft vorüber-
gehend heruntergefahren – und damit den
Zorn des Kreml auf sich gezogen. Nach mehr-
wöchigem Stopp hat Conti seine Produktion
wiederaufgenommen. Den Managern vor Ort
hätten sonst »harte strafrechtliche Konse-
quenzen« gedroht, sagt das Unternehmen.
Überschlugen sich westliche Konzerne
nach Kriegsbeginn noch in Solidaritätsbekun-
dungen für die Ukraine und in Lob für die
EU-Sanktionen, hadern viele inzwischen mit
den Tücken eines Rückzugs. Rund 200 000
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, kalkuliert
die »Financial Times«, stünden noch immer
auf der Payroll westlicher Konzerne in Russ-
land, die wahre Zahl dürfte deutlich höher
sein. Dabei ist der öffentliche Druck, das Land
zu verlassen, nach den vielen Gräueltaten
größer denn je. Nicht nur die ukrainische Re-
gierung fordert von der Wirtschaft einen här-
teren Kurs. Auch die Konsumenten mucken
auf. Im Internet kursieren Fotomontagen, die
blutverschmierte Ritter-Sport-Schokoladen
oder deutsche Kühlschränke zeigen.
Mehr als 750 westliche Unternehmen, da-
runter die Allianz, BASF, Bosch, die Deutsche
Bank, Mercedes, Volkswagen und SAP haben
ihr Geschäft in Russland zwar weitgehend
gestoppt, wie ein Forscherteam der US-Elite-
universität Yale nachgezählt hat. Aber nur
wenige haben sich entschieden, Russland für
immer zu verlassen. Die BASF-Tochter Win-


tershall Dea will ihre Beteiligungen an be-
stehenden Projekten in Russland aufrecht-
erhalten – bei einem Rückzug würden an-
sonsten Milliardenwerte an den Staat fallen.
Selbst Ikea, das die Schließung seiner Filialen
verkündete, betreibt die zum Konzern ge-
hörenden Mega-Malls im Land weiter.
»Gehen oder bleiben?« ist für die Unter-
nehmen nicht mehr allein eine Frage der Mo-
ral oder weiterer Sanktionen. Die Regierung
in Moskau zwingt ausländische Firmen teils
mit harten Drohungen, ihr Russlandgeschäft
fortzuführen. Putins Folterinstrumente rei-
chen von Kontrollen über Enteignungen bis
hin zu Haftstrafen für lokale Führungskräfte.
Schon wer seine Geschäftstätigkeit redu-
ziert, muss mit Behördenbesuch rechnen. Mit
solchen Kontrollen ist neben der russischen
Staatsanwaltschaft offenbar auch der Inlands-
geheimdienst beauftragt, der sonst eher für
Terrorabwehr und innere Sicherheit zuständig
ist. Ein westlicher Mittelständler, der aus
Angst lieber anonym bleiben will, berichtet,
zwei Offiziere des FSB hätten kürzlich vor
der Tür gestanden und den russischen Ge-
schäftsführer verhört. Die Geheimdienstler
hätten gefragt, warum die Produktion ge-

stoppt worden und ob der Abbau von Arbeits-
plätzen geplant sei. Das Unternehmen habe
darum gebeten, den Justiziar mit dazu zu
holen. Das hätten die FSB-Leute abgelehnt.
Um sich zu schützen, würden deutsche Be-
triebe ihre russischen Tochterfirmen zuneh-
mend vom Mutterhaus abkapseln, berichten
Industrievertreter. Die Befürchtung: Putin-
Getreue könnten versuchen, Informationen
abzusaugen oder das Stammhaus in Deutsch-
land anderweitig zu schädigen. Die meisten
scheuen sich jedoch, ihre Betriebe ganz dicht-
zumachen, aus Sorge vor Enteignung oder
Repressalien gegenüber Mitarbeitern. Dabei
sind die Hoffnungen auf große Geschäfte in
Russland bei vielen längst zerplatzt.
Continental etwa hatte darauf gesetzt, in
einem modernen Werk im Industriepark Ka-
luga Süd, etwa 180 Kilometer südwestlich von
Moskau, jährlich Millionen Reifen und Hun-
derttausende Motorsteuergeräte zu fertigen.
Mit der Invasion mussten die Autobauer VW,
Volvo Trucks und Stellantis, die in Kaluga
ebenfalls große Werke betreiben, ihre Pro-
duktion einstellen. Ihnen fehlten wichtige
Teile, etwa aus der Ukraine. Auch Conti
stoppte seine Fertigung. Nach mehreren
Wochen entschloss sich der Konzern, die Rei-
fenproduktion wiederaufzunehmen, zunächst
in kleiner Stückzahl, »ausschließlich Pkw-
Reifen, die für den zivilen Nutzen ausgelegt
sind«, beteuert Conti.
Die Reaktionen fielen trotzdem harsch aus.
Aus Sicht des Münchner Historikers Paul Er-
ker ist die Wiederaufnahme der Produktion
eine »willfährige und feige Unterordnung
unter eine Diktatur«. Conti habe offenbar
»jeglichen moralischen Kompass verloren«.
Erkers Kritik trifft den Konzern hart, denn
der Historiker kennt ihn gut. Im Auftrag des
Zulieferers hatte er 2020 dessen NS-Vergan-
genheit aufgearbeitet. Schon kurz nach dem
Einmarsch der Russen in die Ukraine schrieb
Erker eine geharnischte Mail an die Konzern-
zentrale. Von einer »beschämenden Stellung-

Abschiedsgrüße


aus Moskau


UKRAINEKRIEG Der Druck auf deutsche Konzerne, Russland den Rücken


zu kehren, nimmt zu. Doch viele hadern mit dem Rückzug, auch


weil die Repressalien des Kreml gegen Abtrünnige immer brutaler werden.


Obi-Filiale in Moskau: Erst geschlossen, dann an einen russischen Investor übergeben

AFP
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