Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
WIRTSCHAFT

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 65

nahme zum Invasionskrieg« ist darin
die Rede. Conti habe offenbar nichts
aus der NS-Zeit für den heutigen Um-
gang mit einer Diktatur gelernt.
Conti-Chef Nikolai Setzer hatte in
einer internen Mitarbeiter-Info seine
Bestürzung über die »Entwicklungen
in Russland und der Ukraine« ge-
äußert. Was Erker ärgerte: Nirgend-
wo tauchte das Wort »Krieg« auf,
stattdessen war von »Kampfhandlun-
gen« und »militärischer Auseinander-
setzung« die Rede. Ebenso habe jede
Verurteilung des russischen Angriffs
gefehlt, nur: »Die Sicherheit unserer
Kolleginnen und Kollegen hat höchs-
te Priorität.« Für Erker ist das die
»unterste Schublade von Putin-Pro-
paganda«. Da Conti in Russland pro-
duziere und nicht in der Ukraine,
habe der Vorstand offenbar eine kla-
re Priorität.
Continental hingegen beteuert,
den »Angriffskrieg Russlands gegen
die Ukraine« aufs Schärfste zu ver-
urteilen. Man wolle allein seiner Ver-
antwortung als Arbeitgeber gerecht
werden. Was das Unternehmen öf-
fentlich nicht erzählt: Der Konzern
steht unter strenger Beobachtung der
russischen Behörden. Staatsanwalt-
schaft, Steuer- und Arbeitsaufsicht
wachen mit über Produktion, Beleg-
schaft und Lager.
Mehrfach musste der Zulieferer
Rechenschaft ablegen, warum er sei-
ne Herstellung Anfang März gestoppt
hatte. Zunächst konnte er sich auf
drohende Lieferengpässe berufen.
Mittlerweile verfügt Conti wieder
über alle nötigen Materialien. Das ist
auch den russischen Behörden nicht
entgangen, sie haben präzisen Ein-
blick in Lager- und Auftragsbestände.
Hätte man die Produktion nicht wie-
deraufgenommen, hätten den Füh-
rungskräften vor Ort womöglich gar
Haftstrafen gedroht – wegen mutwil-
liger Geschäftsschädigung.
Das russische Parlament diskutiert
sogar eine Erweiterung des entspre-
chenden Paragrafen 201 im Strafge-
setzbuch. Danach könnte bereits die
Einhaltung von Wirtschaftssanktio-
nen als Delikt gelten. Für europäische
Konzerne wäre das katastrophal:
Wenn das Gesetz käme, »stünden die
Geschäftsführer mit einem Bein im
Gefängnis«, sobald sie sich an west-
liche Sanktionen hielten, sagt An-
dreas Knaul, Managing Partner für
Russland bei der Mittelstandsbera-
tung Rödl & Partner. Ein Rückzug
wäre dann unvermeidbar.
Ein Komplettausstieg käme für
einige Konzerne einem Fiasko gleich.
Beim Großhändler Metro spielt der
Ukrainekrieg mitten im Unterneh-


men. 26 Märkte betreibt die Metro in
der Ukraine, 93 in Russland. Als Pu-
tin die Ukraine überfiel, forderten die
dortigen Mitarbeiter das Manage-
ment öffentlich auf, sich aus Russland
zurückzuziehen.
Geschehen ist das bis heute nicht.
Die Begründung: Metro Russland sei
beinahe ein autarkes Geschäft, »in
seinen Strukturen, seiner Beschaffung
und seinem Vertrieb«. In den Filialen
und der Verwaltung arbeiteten vor
allem russische Mitarbeiter, die zwei-
einhalb Millionen Kunden seien rus-
sische Kleinhändler und Gastrono-
men. Als »inländisches« Unterneh-
men habe man für diese Menschen
eine Verantwortung.
Mag sein, tatsächlich hat Metro
ohne den russischen Markt aber ein
Riesenproblem. 10 Prozent seines
Umsatzes und satte 17 Prozent seines
Vorsteuergewinns erwirtschaftet der
Händler dort. Allein die Immobilien
sind mit rund 800 Millionen Euro be-
wertet. »Das kann man nicht so ein-
fach kompensieren«, sagt ein Metro-
Manager. Aufsichtsrat und Eigen-
tümer stünden hinter dem Kurs des
Managements. Der Konzern plant
weiter mit Russland.
25 bis 30 Prozent der deutschen
Firmen, schätzt Rödl & Partner-An-
walt Knaul, würden gern in Russland
bleiben, 20 bis 25 Prozent wollen das
Land verlassen und ihre Töchter am
liebsten abwickeln, weitere 10 bis
15 Prozent bereiteten einen Verkauf
an das örtliche Management vor.
5 Prozent würden eine Treuhand-
lösung bevorzugen, etwa über eine
Filiale in Kasachstan. »So kann man
öffentlichkeitswirksam Russland ver-
lassen«, sagt Knaul, »ist aber immer
noch in der Nähe des Marktes.« Die
verbleibenden gut 20 Prozent hätten
sich noch keine Gedanken gemacht,
wie es weitergehen soll.
Wie schwer ein Rückzug zu orga-
nisieren ist, zeigt das Beispiel Dr. Oet-
ker. Der Nahrungsmittelhersteller hat

sein Russlandgeschäft vor Kurzem an
das dortige Management verkauft.
Das Hefe- und Backpulver-Werk in
Belgorod und die Verwaltung in Mos-
kau samt der 150 Mitarbeiter werden
gerade abgegeben.
Die Hürden sind groß: Vorräte
müssen aufgebraucht oder abgekauft,
die IT-Verbindungen nach Deutsch-
land gekappt werden. Es braucht
neue Arbeits- und Lieferantenverträ-
ge. Allein den in Bielefeld unter-
schriebenen Kaufvertrag nach Russ-
land zu bekommen, sei ein Problem,
heißt es bei Oetker. Es werde wo-
möglich bis zum Sommer dauern, ehe
alles abgewickelt sei. Zumal man für
vieles auf die Mithilfe der russischen
Behörden angewiesen sei. Nicht so
einfach, wenn man verhindern will,
dass die Fabriken kremltreuen Oli-
garchen in die Hände fallen.
Gleich nach Bekanntgabe der Ver-
kaufspläne sollen sich in Bielefeld Ge-
schäftsleute aus Moskau gemeldet
haben, um die Immobilien zu über-
nehmen. Das Werk an Putin oder
dessen Anhänger abzutreten, kam für
das Familienunternehmen jedoch
nicht infrage. Die jetzige Lösung soll
den neuen Eigentümern eine Chance
geben, auf dem russischen Markt zu
bestehen. Und die Mitarbeiter vor
Repressalien schützen.
Wer in Russland ausharrt, muss
seine Belegschaft zunächst weiter-
bezahlen, auch wenn der Betrieb ruht
oder die Fabrik kaum mehr produ-
ziert. So schreibt es das russische Ge-
setz vor. Da Überweisungen in das
sanktionierte Land immer schwieri-
ger werden, müssen die Konzerne das
Geld für die Gehaltszahlungen vor
Ort erwirtschaften. Das lässt sich
kaum länger als ein paar Monate
durchhalten. »Es wird in Russland
eine Reihe von Insolvenzen und Ge-
schäftsauflösungen geben«, prognos-
tiziert Peter Finding, Arbeitsrechtler
der Kanzlei FisherBoyles, der Kon-
zerne mit Russlandgeschäft berät.
Das Risiko ist also hoch, dass von
den Aktivitäten deutscher Firmen in
Russland wenig übrig bleibt. Ob der
Rückzug nun freiwillig ist oder nicht.
Das glaubt auch Tengelmann-Chef
Haub. Er rechnet mit einer »massiven
Rezession in Russland«, viele Arbeits-
plätze würden verloren gehen. Sollte
sich Deutschland gar entschließen,
die Energieimporte einzustellen, wer-
de der Schock noch größer ausfallen.
»Für westliche Unternehmen«, sagt
Haub, »wird der russische Markt auf
lange Sicht unattraktiv bleiben.«

Oetker-Pizzen in
Metromarkt 2014:
Die Hürden für einen
Ausstieg sind hoch

Benjamin Bidder, Simon Book,
Jürgen Dahlkamp, Kristina Gnirke,
Simon Hage, Martin Hesse n

Verdrängter
Riese

Deutscher Osthandel
mit ausgewählten
Ländern, Waren-
verkehr in Mrd. Euro

S◆Quelle: Destatis

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