Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
WIRTSCHAFT

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 67

I


n einem vom Abriss bedrohten Platten-
bau gegenüber vom Alexanderplatz,
gleich neben der Cocktailbar Knutsch-
fleck, hat das Berliner Start-up Mayd seinen
Sitz. In dem schmucklosen Ladenlokal stehen
E-Bikes herum, in einem Regal laden Akkus,
stapeln sich Rucksäcke und Helme. Auf Stüh-
len machen die Fahrer Pause, bevor sie auf-
brechen, zum nächsten kränkelnden Kunden.
Das Versprechen des erst wenige Monate
alten Unternehmens: binnen 30 Minuten Na-
senspray, Wundsalbe oder andere rezeptfreie
Medikamente an die Haustür zu liefern. Ge-
ordert wird per App, ausgefahren per Rad. In
18 Städten ist der Service verfügbar. Was Go-
rillas oder Flink für Lebensmittel sind, wollen
Firmen wie Mayd, Kurando, Cure oder First
A für die Pharmabranche werden. Die Idee
klingt charmant, wer will sich schon krank in
die Apotheke schleppen.
Bisher ist das Geschäft der Arzneiliefer-
dienste allerdings kaum mehr als eine teure,
hoch riskante Wette. Der Markt mag riesig
sein, aber er ist hochgradig reguliert, so sehr,
dass manche das Lieferbusiness mit den Phar-
mazeutika sogar für illegal halten. Hinzu
kommt: Solange elektronische Rezepte in
Deutschland kaum verbreitet sind, bleibt der
lukrativste Teil des Marktes für Mayd und Co.
weitgehend unter Verschluss.
Aus juristischen Gründen dürfen sie ihre
Kunden nicht direkt beliefern, sondern müs-
sen die Bestellung erst in einer Partner-
apotheke abholen. Die zahlt meist eine Pro-
vision an den Lieferdienst, in der Regel rund
15 Prozent des Bestellwertes. Mayd spricht
von einer »vierstelligen Zahl an Touren« pro
Tag. Das durchschnittliche Paket wiegt gera-
de einmal 50 Gramm. Das macht die Heil-
mittelkuriere als Arbeitgeber attraktiver als
Konkurrenten wie Gorillas: Niemand muss
hier für 12 Euro Stundenlohn plus Zuschlag
Getränkeflaschen in den vierten Stock schlep-
pen. »Wir haben mehr Bewerber, als wir ein-
stellen können«, sagt Mayd-Mitgründer Han-
no Heintzenberg, 34, der zuvor das Immobi-
lienportal McMakler hochgezogen hat.
Das Geld für sein Start-up stammt von ver-
schiedenen Wagniskapitalgebern, 30 Millio-
nen Euro zahlte etwa der US-Investor Light-
speed Venture Partners. Mayd ist so gut

finanziert wie kaum ein Konkurrent – und
glaubt das auch zu brauchen. »In dem Markt
ist nur Platz für ein Unternehmen. Wir wollen
sehr, sehr schnell wachsen«, sagt Heintzen-
berg. Insider behaupten, das Start-up ver-
brenne aktuell drei Millionen Euro im Monat.
Mayd kommentiert die Summe nicht.
Für die klassischen Apotheken vor Ort sind
die Lieferdienste ein Ärgernis. Sie werden aus
allen Richtungen bedrängt: Amazon liefert be-
reits rezeptfreie Arzneimittel, Versandapothe-
ken wie Shop Apotheke und Doc Morris bieten
ihren Service auch bei verschreibungspflichti-
gen Präparaten an. Die Drogeriekette dm über-
legt, künftig Impfungen und Medikamente in
ihren Filialen anzubieten. Und der Online-
Lebensmittelhändler Knuspr fährt seit Kurzem
neben Toastbrot und Bier ebenfalls verschrei-
bungsfreie Tabletten und Salben aus.
In den vergangenen zehn Jahren hat sich
die Zahl der Apotheken bundesweit um 2688
verringert. Dafür stieg der Umsatz der ver-
bliebenen: Eine Apotheke erwirtschaftete
2020 im Schnitt 2,7 Millionen Euro, 2012 wa-
ren es nur 1,8 Millionen. Nicht verschriebene
Arzneimittel spielen bei den Erlösen mit rund
sieben Prozent kaum eine Rolle – was den
Apotheken Zeit verschafft, sich gegenüber
den digitalen Angreifern zu behaupten.
Dass diese sich bisher mit den Brosamen
begnügen müssen, liegt daran, dass elektro-
nische Rezepte hierzulande bisher kein Stan-
dard sind. Die Auslieferung verschreibungs-

pflichtiger Medikamente ist so streng regu-
liert, dass sie gegenwärtig kaum wirtschaftlich
wäre: Der Kurier müsste das Papierrezept
erst beim Kunden abholen und anschließend
in die Apotheke bringen. Selbst rezeptfreie
Präparate bergen – zumindest theoretisch –
ein Restrisiko, denn die Aufklärungspflichten
sind strikt. Sie sehen vor, dass Apotheken ihre
Kunden auch über mögliche Nebenwirkungen
von Aspirin oder Nasensprays informieren.
Das geschieht bei der Order per App in der
Regel nicht proaktiv. Heintzenberg beteuert,
der Apotheker nehme Kontakt zum Kunden
auf, wenn er dies für nötig erachte.
Tatsächlich geht Heintzenbergs Wette nur
auf, wenn das elektronische Rezept schnell
zur Regel wird und er verschreibungspflich-
tige Arzneien ohne langes Hin und Her liefern
kann: »Hier liegt das eigentliche Geschäft.«
Mit Medikamenten, die eilig gebraucht
werden, etwa Schmerzmitteln, lässt sich kaum
Geld verdienen. Paracetamol-Säuglingszäpf-
chen etwa kosten bei Mayd 1,18 Euro. Eine
Liefergebühr fällt für den Kunden nicht an,
eine Mindestbestellmenge gibt es nicht.
Fachleute zweifeln daher an der Nachhal-
tigkeit der Idee: »Es regiert das Prinzip Hoff-
nung. Man denkt, dass jede schnelle Lieferung
eine Lizenz zum Gelddrucken ist«, sagt der
Apothekenexperte Markus Bönig. Er selbst
betreibt eine Plattform, über die Pharmakon-
zerne ihre Medikamente vertreiben. »Für jede
Flasche Nasenspray einzeln zu fahren lohnt
sich nicht«, sagt er. Während Amazon fast
täglich die wichtigsten Straßen der Großstäd-
te abfährt und ein Päckchen mehr kaum zu-
sätzliche Kosten verursacht, sei das bei Arz-
neimitteln anders. »Medikamente werden
meist nicht innerhalb von 20 Minuten benö-
tigt und auch nicht stündlich oder auch nur
täglich in jeder Straße«, sagt Bönig.
Ob sich die Aussichten bald bessern, hängt
von vielen Faktoren ab: Gewinnt das Unter-
nehmen viele chronisch Kranke, die regel-
mäßig Medikamente bestellen? Und wie wer-
den die Start-ups mit der IT-Infrastruktur im
Gesundheitswesen verbunden, sodass Patien-
ten sie direkt als Lieferanten wählen könnten?
Derzeit kann eine Bestellung für Kunden
teuer werden: Während viele Apotheken die
Herstellerpreise bei manchen Artikeln unter-
bieten, folgt Mayd oft den Empfehlungen der
Produzenten. Eine Dose Säuglingsmilchpul-
ver kostet hier 26 Euro – fast 10 Euro mehr
als in so manchem Drogeriemarkt.
Auf dem Land, wo die nächste Apotheke
oft viele Kilometer entfernt ist und der Bedarf
aus Sicht der Kunden besonders groß, fährt
bisher keiner der Pharmakuriere. Heintzen-
berg verspricht, das zu ändern. »Wir wollen
auch in die Dörfer«, sagt er. 30 Minuten Lie-
ferzeit in einem 2000-Einwohner-Ort? Das
wäre ökonomischer Selbstmord. Mayd wird
dort auf ein Tourenmodell setzen, bei dem
mehrmals am Tag bestimmte Ortschaften be-
liefert werden. Ein Service freilich, den viele
Apotheken mit eigenen Boten längst anbieten.

Service mit Risiken und


Nebenwirkungen


MEDIZIN Start-ups wie Mayd versprechen, Medikamente binnen
30 Minuten nach Hause zu liefern. Während Lebensmittelkuriere Milliarden
verbrennen, hoffen sie auf den Durchbruch – mit digitalen Rezepten.

Mayd-Kurier in Berlin Martin U. Müller n

Fabian Sommer / dpa / picture alliance
Free download pdf