Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
WIRTSCHAFT

68 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022

D


er Deal war gerade verkündet, da ver-
abschiedete sich Aaron Greenspan von
Twitter. Dass Elon Musk die Plattform
übernehmen würde, war zu viel für ihn. Der
39-jährige Softwareentwickler gehört zu den
schärfsten Kritikern des kapriziösen Tesla-
Chefs, regelmäßig veröffentlicht er brisante
Dokumente, die den Elektroautobauer bla-
mieren. Seine neuen Fundstücke bewarb
Greenspan stets auf Twitter. Bis jetzt. Seinen
Account @Plainsite mit 18 000 Followern hat
er am Montag stillgelegt. »Ich will einem nar-
zisstischen Soziopathen wie Elon Musk nicht
die Kontrolle über einen Teil meines Lebens
überlassen«, sagt er.
Dass sich der reichste Mann der Welt für
44 Milliarden Dollar eine der wichtigsten
Nachrichtenplattformen kauft, ist beispiellos.
Wenn das Geschäft in den kommenden
Monaten tatsächlich zustande kommt, kon-
trolliert Musk einen Dienst mit mehr als
300 Millionen Nutzern.
Der Multiunternehmer hebt sein Magna-
tentum damit auf eine neue Stufe: Neben dem
weltweit wertvollsten Autohersteller, einem
führenden Raumfahrtkonzern (SpaceX), einer
Firma, die Schnittstellen zwischen unserem
Gehirn und Computern schaffen will (Neura-
link) und dem Tunnelbauer Boring Company
hält Musk künftig eine der wichtigsten Infor-

mationsbörsen der digitalen Öffentlichkeit in
Händen.
Bisher war Musks Macht eine rein öko-
nomische, jetzt wird sein Einfluss politisch.
Eine digitale Meinungsmaschine im Besitz
eines Mannes, der seine Kritiker öffentlich
beleidigt und niedermacht, der den Kampf
der sozialen Medien gegen Hass und Hetze
als Zensur verunglimpft und der fortan jeden
mundtot machen kann, der ihm nicht passt?
Die Vorstellung macht nicht nur Musk-Kriti-
kern wie Greenspan Angst. Die demokrati-
sche US-Senatorin Elizabeth Warren warnt
vor einer »Gefahr für die Demokratie«.
Das rein Geschäftliche an dem Deal inte-
ressiere ihn überhaupt nicht, sagt Musk selbst,
und man darf das durchaus als Drohung ver-
stehen. Für den Unternehmer birgt der Deal
dennoch ein Dilemma: Baut er die Plattform

zu einer politischen Waffe nach eigenem
Gusto um, könnte Twitter für ihn zu einem
Milliardengrab werden. Für den Kauf geht
Musk – geschätztes Vermögen derzeit rund
250 Milliarden Dollar – erhebliche finanziel-
le Risiken ein: Mehr als 33 Milliarden des
Kaufpreises stemmt er selbst, 12,5 Milliarden
davon über einen Kredit, den er mit einem
Teil seiner Tesla-Aktien absichert; sollten die-
se um 40 Prozent fallen, müsste er das Dar-
lehen sofort tilgen.
Mit den Erfolgsgeschichten anderer Sili-
con-Valley-Ikonen konnte Twitter nie mit-
halten. Voriges Jahr meldete der Kurznach-
richtendienst einen Umsatz von fünf Milliar-
den Dollar – und 221 Millionen Dollar Verlust.
Die Nutzerzahlen sind im Vergleich zu Face-
book (2,9 Milliarden im Februar 2022) oder
dem Newcomer TikTok (eine Milliarde) über-
schaubar. In Deutschland waren es Anfang
dieses Jahres knapp acht Millionen.
So mager die wirtschaftliche Performance,
so gewaltig ist der Einfluss von Twitter. Poli-
tiker, Wirtschaftsbosse, Stars, Sportler, Wis-
senschaftler und, wie sich im Ukrainekrieg
gerade zeigt, Militärexperten nutzen die Platt-
form zur Debatte. Via Twitter wird Weltpoli-
tik gemacht, werden Finanzmärkte bewegt
und gesellschaftliche Debatten losgetreten
und ausgetragen. Die Maidan-Proteste in der
Ukraine, die #metoo-Bewegung, die Sexismus
anprangert, oder der Antirassismusprotest
#BlackLivesMatter – immer spielte Twitter
eine wichtige Rolle.
Niemand weiß das besser als Elon Musk,
selbst ein leidenschaftlicher, ja besessener
Nutzer – und mit rund 87 Millionen Follo-
wern schon bislang einer der einflussreichsten
Influencer dort. Um den jüngsten Raketen-
start seiner Raumfahrtfirma SpaceX zu feiern,
die Eröffnung des neuen Tesla-Werks in Grün-
heide oder seine Partyabenteuer in Berlin,
setzt Musk bisweilen Dutzende Tweets an
einem Tag ab. Gern auch, um den Wert ob-
skurer Kryptowährungen anzuheizen – an
denen er selbst gut verdient.
Warum also ist es Musk so wichtig, auch
noch die wirtschaftliche Kontrolle über den
Dienst zu besitzen? Warum will er die Firma
von der Börse nehmen – und damit de facto
zum Alleinherrscher über sie werden?
Die Plattform sei »extrem wichtig für die
Zukunft der Zivilisation«, sagt Musk. Er wol-
le dort für mehr Rede- und Meinungsfreiheit
sorgen und die Moderation von Inhalten, die
Twitter in den vergangenen Jahren mühsam
etabliert hat, wieder herunterfahren. Das
wirft die Frage auf, was Musk unter Redefrei-
heit versteht – und vor allem: für wen sie gel-
ten soll. Als Vorkämpfer für freie Rede ist der
Tesla-Chef bisher nicht aufgefallen, insbeson-
dere wenn es gegen ihn selbst, seine Firmen
und Produkte ging.
Musk-Kritiker Greenspan sagt, er sei 2018
zum ersten Mal mit dem Unternehmer und
dessen Fans aneinandergeraten, als er ein
Video eines Tesla teilte, dessen Bildschirm
bei voller Fahrt eingefroren war. Ein Account

Der Vogel-Fänger


SOCIAL MEDIA Mit der Übernahme von Twitter sichert sich
der Multiunternehmer Elon Musk ein globales Meinungsimperium.
Aus der ökonomischen Macht des Tesla-Chefs wird nun
politischer Einfluss. Es könnte seine riskanteste Wette werden.

»Ich will einem Soziopathen
wie Musk nicht die
Kontrolle über einen Teil
meines Lebens überlassen.«
Aaron Greenspan, Softwareentwickler

Twitter-Logo, Magnat Musk: Kritiker mundtot machen?

John Nacion / Geisler-Fotopress / picture alliance Jens Krick / Flashpic / picture alliance

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