Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

72 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


AUSLAND


In Istanbul wird eine Frau von Polizisten festgenommen. Mit Hunderten Türkinnen und Türken demonstrierte sie gegen die lebenslange Haftstrafe
für den Kulturförderer Osman Kavala und die mehrjährigen Haftstrafen für sieben weitere Verurteilte. Kavala sitzt bereits seit 2017 in Haft,
am Montag sprach ihn ein Gericht in Istanbul wegen eines vermeintlichen Umsturzversuchs im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten 2013
schuldig. Nicht nur in der Türkei, auch international werden die Urteile scharf kritisiert, noch sind sie nicht rechtskräftig.


Tiefschlaf, staatlich verordnet


ANALYSE Wegen der Coronapandemie legt
Chinas Führung die Wirtschaft lahm – könnte
das die Volksrepublik ruinieren?

Überall Zäune, grün und kilometerlang. Beinahe über Nacht
haben die Nachbarschaftskomitees in Shanghai sie in den ver-
gangenen Tagen aufgestellt und damit den Lockdown weiter
verschärft. Shanghai, die größte Stadt Chinas, sieht nun aus wie
ein gewaltiges Freiluftgefängnis, und genauso fühlt es sich für
die meisten der 26 Millionen Einwohner inzwischen auch an.
Von »harter Isolation« oder »strenger Quarantäne« ist die Rede.
Wie lange der Lockdown noch andauert, weiß niemand. Seit
etwa einem Monat sind die Shanghaier weggesperrt. Folgen vier
weitere quälende Wochen?
Sicher ist nur: Der Schaden für die Weltwirtschaft beginnt
Formen anzunehmen. Der Shanghaier Hafen ist der größte der
Welt, und die Waren, die nicht auf die dort ankernden Schiffe ge-
laden werden können, werden bald in Europa und den Vereinig-

ten Staaten fehlen. Auch in China selbst sind die Auswirkungen
gewaltig: Viele Fabriken im Land haben ihre Fertigung gedros-
selt, weil wichtige Vorprodukte aus Shanghai fehlen. Nach dem
Lockdown von Wuhan brach das chinesische Bruttoinlands-
produkt im ersten Quartal 2020 um 6,8 Prozent ein. Es war der
erste negative Wert seit Beginn der quartalsweisen Erhebungen


  1. Ein ganzes Jahr ohne Wachstum hatte es in der Volksrepu-
    blik zuletzt 1976 gegeben, als Staatsgründer Mao Zedong starb.
    Anfang März dieses Jahres, als Shanghai noch nicht einge-
    zäunt war, hat die chinesische Führung dem Land ein Wachstum
    um 5,5 Prozent verordnet. Eine Vorgabe, die Staats- und Partei-
    chef Xi Jinping um jeden Preis erfüllt sehen will, ganz egal ob
    nun Millionen Chinesinnen und Chinesen im Lockdown fest-
    sitzen. Intern soll er die Devise ausgegeben haben, dass die
    chine sische Volkswirtschaft 2022 stärker wachsen muss als das
    Brutto inlandsprodukt der USA. Wie auch immer, die Kader sol-
    len es hinbekommen. Dass der staatlich verordnete Tiefschlaf
    von Shanghai das Potenzial hat, die Volksrepublik zu ruinieren,
    scheint Xi nicht zu erreichen, verbissen versuchen seine Hinter-
    sassen, die völlig gescheiterte Null-Covid-Politik zu retten,
    und dazu muss das Virus in Shanghai unter Kontrolle gebracht
    werden, notfalls eben mit Zäunen und Gittern. Christoph Giesen


Sedat Suna / epa
Free download pdf