Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 73

Frontex mauert


GRIECHENLAND Die euro-
päische Grenzschutzagentur
Frontex ist tiefer in die illegalen
Pushbacks von Flüchtlingen
durch die griechische Küsten-
wache verstrickt als bislang be-
kannt. Das belegen gemeinsame
Recherchen des SPIEGEL mit
Lighthouse Reports, den
Schweizer Medien SRF und
»Republik« sowie »Le Monde«.
Die griechische Küstenwache
setzt in der Ägäis systematisch
Schutzsuchende auf dem Meer
aus, um die Zahl der Flüchtlinge
zu reduzieren. Den Recherchen
zufolge war Frontex zwischen
März 2020 und September 2021
in illegale Pushbacks von min-
destens 957 Flüchtlingen in-
volviert. Dabei handelt es sich
um jene 22 Pushbacks, die sich
zweifelsfrei nachweisen lassen,
beispielsweise weil Fotos von
Flüchtlingen in griechischen
Rettungsflößen vorliegen. Die

wahre Zahl der Pushbacks, bei
denen Frontex behilflich war,
liegt wahrscheinlich höher.
Die Pushbacks sind in einer
internen Datenbank von Fron-
tex aufgelistet, allerdings stets
unter dem falschen Begriff »pre-
vention of departure«, Verhin-
derung der Ausreise. Damit sol-
len eigentlich Situationen be-
zeichnet werden, in denen die
türkische Küstenwache Flücht-
linge abfängt. In der Realität
werden die Boote aber erst in
griechischen Gewässern auf-
gegriffen und zurückgeschleppt.
Auf Anfrage teilte Frontex mit,
nicht auf konkrete Vorfälle ein-
gehen zu können. Die Grenz-
schutzagentur steht seit Mona-
ten unter Druck. Bis heute hat
Exekutivdirektor Fabrice Leg-
geri nicht eingeräumt, dass es in
der Ägäis zu Pushbacks kommt.
Frontex brauche eine neue
Kultur und einen Führungs-
wechsel, sagte die EU-Parla-
mentarierin Tineke Strik. SLÜ

Drehbuch eines
Autokraten
BRASILIEN Als Präsident Jair
Bolsonaro am Donnerstag ver-
gangener Woche den Abgeord-
neten Daniel Silveira per De-
kret begnadigte, erkannten vie-
le darin einen weiteren Schritt
Brasiliens in Richtung Autokra-
tie. Silveira, der zu Bolsonaros
glühendsten Unterstützern im
Kongress gehört, war tags zuvor
vom Obersten Gericht zu einer
mehr als achtjährigen Haftstrafe
verurteilt worden. Die Richter
legten ihm zur Last, dass er in
Internetvideos und öffentlichen
Hassreden wiederholt zu Ge-
walttaten gegen Vertreter der

Justiz aufgerufen habe. Auch
wenn ihm die Verfassung
Amnestien erlaubt – dass ein
Präsident ausgerechnet im
Falle eines seiner engsten Ver-
bündeten Gnade vor Recht
ergehen lässt, ist nicht nur ein
Novum in der jüngeren brasilia-
nischen Geschichte. Es ist vor
allem ein Affront, mit dem es
Bolsonaro offenbar darauf an-
legt, im langsam Fahrt aufneh-
menden Wahlkampf die Wider-
standskraft der rechtsstaatlichen
Institutionen zu testen.
Aktuell erscheint eine Wie-
derwahl Bolsonaros ziemlich
ungewiss. So gut wie alle Um-
fragen sehen den ehemaligen
Amtsinhaber Lula da Silva mit
großem Abstand vorn. Auch
deshalb flirtet Bolsonaro mehr
oder weniger offen mit der
Option eines Staatsstreichs.
Um vorzubauen, hat er unter
anderem Zweifel am Funktio-
nieren der elektronischen Wahl-
urnen gesät. Für den Fall, dass
ein Betrugsverdacht aufs Wahl-
ergebnis fallen sollte, drohte
er implizit mit Szenen wie im
Washingtoner Kapitol. Die
Begnadigung Silveiras, der in
den Augen seiner Anhänger
ein Widerstandsheld ist, wirkt
nun wie ein weiteres Kapitel
in Bolsonaros Drehbuch. Einer
der Richter, die er dadurch in
die Schranken wies, ist Vorsit-
zender des Aufsichtsgremiums
für die Wahl im Oktober. BLA

»Faschistischer Mafiastaat«


RUSSLAND Leonid Newslin, Oligarch der Jelzin-Ära,
über Sanktionen gegen Putin und
warum er froh ist, kein Russe mehr zu sein

Newslin, 62, war
Vize chef des Öl-
konzerns Yukos und
setzte sich 2003
nach Israel ab, wo
er seither lebt.

SPIEGEL: Herr Newslin, Sie
haben jüngst auf Ihre russische
Staatsbürgerschaft verzichtet.
Warum?
Newslin: Ich finde es momentan
beschämend, Russe zu sein, und
wehre mich derzeit mit allen
verfügbaren juristischen Mitteln
gegen Putins Regime. Und als
israelischer Staatsbürger unter-

stütze ich den ukrainischen
Widerstand. Putins Russland
ist nicht länger meins, lieber
kämpfe ich dagegen an.
SPIEGEL: Wann wurde Ihnen
klar, dass Russland abdriftet?
Newslin: Ich habe Russland
schon vor zwölf Jahren als Mafia-
regime bezeichnet und nehme
mit Genugtuung zur Kenntnis,
dass das immer mehr Menschen
genauso sehen. In jüngerer Ver-
gangenheit ist Putin allerdings
zunehmend ideologisch aufgetre-
ten, er sprach und schrieb immer
häufiger über russische Überle-
genheit. Deshalb denke ich, noch

korrekter wäre es, Russland
unter Putin als faschistischen
Mafia staat zu bezeichnen.
SPIEGEL: Welche Rolle spielen
die Oligarchen heute? Viele
glauben, superreiche Russen
könnten ihr Geld nicht ohne
Putin gemacht haben, Sie auch?
Newslin: Putin zeichnet nicht
jede Transaktion persönlich ab.
Aber wir reden über ein ver-
tikales System, und ganz oben
sitzt Putin. Es gibt keine einzige
mittlere oder große Firma, die
frei von staatlichem Einfluss
handeln kann. Wer Geschäfte
machen will, muss einen Teil
aus seiner Schatztruhe abgeben.
SPIEGEL: Was halten Sie von
den westlichen Sanktionen?
Newslin: Je länger Putin Krieg
führt, desto mehr Sanktionen
werden die EU, Amerika und
England erlassen. Wenn das al-
les noch zwei Jahre weitergeht,

wird Russlands Wirtschaft rui-
niert sein und Putin alles verlie-
ren. Leider würde er in diesen
zwei Jahren weitere Ukrainer
töten. Deshalb denke ich, dass
zusätzliche militärische Hilfe
noch dringender nötig ist als
zusätzliche Sanktionen. Ande-
rerseits sollten weiterhin diese
riesigen Vermögen eingefroren
werden, die den russischen Oli-
garchen gehören.
SPIEGEL: Muss man derzeit
noch zwischen Oligarchen
der ersten und der zweiten
Generation unterscheiden?
Newslin: Leider beschmutzt
dieser Krieg das Image von
jedem, der jemals zu Russland
gehörte. Die Leute hassen gera-
de alle Russen, was verständlich
ist. Und da spielt es keine Rolle,
ob du das Land vor Jahren
verlassen hast oder bis zum
Ende an Putins Seite stehst. JÖS

Silveira, Bolsonaro

Frontex-Schiff, Flüchtlingsboot in der Ägäis 2020 (Videostandbild)

Yichiel Yannay


Evaristo Sa / AFP
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