AUSLAND
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 75
A
m 59. Tag des Kriegs brettert
ein cremefarbener Kombi über
die Schotterstraßen von Schew
tschenkowe, einem Dorf im Süden
der Ukrai ne, vorbei an Ruinen. Hin
ter dem Lenkrad sitzt Serhij Basch
kow, ein drahtiger Mann in Leder
jacke, mit kurzen grauen Haaren und
Schnäuzer. Neben ihm schaut seine
Frau Oleksandra aus dem Fenster.
Das dumpfe Donnern schwerer Ar
tillerie hallt durch die Straßen.
Vor dem Krieg lebten gut 3000 Men
schen in Schewtschenkowe, 20 Kilo
meter südöstlich der Hafenstadt My
ko lajiw. Dorthin flüchteten Oleksan
dra und Serhij Baschkow vor Wochen,
als sich die russischen Angreifer näher
ten. Nun sind sie für wenige Stunden
in ihr Heimatdorf zurückgefahren,
um Habseligkeiten aus den Ruinen
ihres Hauses zu holen.
Den MoskwitschKombi hätten sie
sich vom Vater ihres Schwiegersohns
geliehen, sagt Oleksandra Baschko
wa. Ihr eigenes Auto sei von einer
Bombe getroffen worden, genauso
wie ihr Haus. Ihre Stimme flattert,
während sie von den vergangenen
Wochen erzählt, sie reiht nur Satz
fetzen aneinander.
Auf der Flucht musste das Ehepaar
viel von dem, was es besaß, zurück
lassen, darunter auch den Schäfer
hund. »Wir haben ihm Futter dage
lassen«, sagt Oleksandra. Tränen
schießen in ihre Augen. Es sei zu ge
fährlich, im Dorf zu bleiben, sagt sie.
Ihre Hände zittern. Sie blickt sich um.
»Wir müssen los.« Serhij startet den
Motor wieder, die Heimat verschwin
det im Rückspiegel.
Schewtschenkowe liegt an der
Fernstraße M 14 zwischen Mykolajiw
und Cherson. In Friedenszeiten
trennte diese beiden Städte in der
Südukraine weniger als eine Auto
stunde. Heute wirkt es, als lägen sie
auf verschiedenen Planeten. Schon
in den ersten Tagen des Kriegs nah
men die Russen Cherson ein. Sie
überrollten die wenigen ukrai nischen
Kämpfer, die sich ihnen entgegenstell
ten. Cherson ist bis heute die einzige
Hauptstadt einer Region in der Ukrai
ne, die die Invasoren unter ihre Kon
trolle gebracht haben.
Mykolajiw hingegen ist ein Sym
bol des Widerstands. Die Verteidiger
der Stadt und der gleichnamigen Re
gion, in der Schewtschenkowe liegt,
gelten als Nationalhelden. Noch im
mer halten sie den russischen Vor
marsch im Süden auf und haben
dadurch einen Großangriff auf die
Metropole Odessa verhindert. In
zwischen haben sie sogar eine Gegen
offensive gestartet.
Während die Augen der Welt auf
die Großfront im Osten der Ukrai ne
gerichtet sind, toben zwischen Myko
lajiw und Cherson Kämpfe, die über
die Zukunft des Landes mitentschei
den können. Gelingt es den ukrai
nischen Truppen, die Angreifer nach
Osten hinter den Fluss Dnjepr zu
rückzutreiben, wäre das womöglich
ein Fanal für die Rückeroberung wei
terer besetzter Gebiete.
Wehren die russischen Truppen
dagegen die ukrai nischen Vorstöße
ab, können sie sich in der Gegend
festsetzen, ihre Kräfte sammeln und
mittelfristig einen weiteren Groß
angriff starten. Dann könnte auch
Odessa wieder in Gefahr geraten und
damit der Zugang der Ukrai ne zum
Schwarzen Meer. Russlands Präsident
Wladimir Putin wäre seinem Ziel, das
Land zu zerschlagen, deutlich näher.
Die dritte Möglichkeit wäre ein
Patt zwischen beiden Seiten, bei dem
weder die russischen noch die ukra
inischen Truppen entscheidende Ge
ländegewinne machen. Das Ergebnis
wäre ein brutaler, hässlicher Kampf.
Leiden würden darunter die Bewoh
nerinnen und Bewohner der Dörfer
in der Region.
Zu Sowjetzeiten war Schew
tschenkowe Teil einer Kolchose,
eines landwirtschaftlichen Großbe
triebs. Jetzt wurden etliche Häuser
von russischen Geschossen getroffen,
Dächer zu Gerippen gebombt. Ein
Haus wurde nahezu ausradiert; wo
es stand, streunt jetzt ein Hund um
einen tiefen Krater.
Er habe viel zu tun dieser Tage,
sagt Oleksij Panin. Der 41jährige
Schweißer zählt zu denen, die in der
Gemeinde geblieben sind. Er schätzt,
dass mit ihm noch 800 Bewohner im
Dorf leben. Es sind vor allem Leute,
die nicht wussten, wohin sie fliehen
sollten, dazu Alte, behinderte Men
schen sowie deren Familien. Er selbst
sei geblieben, um seine Arbeit zu ma
chen, sagt Panin, ein bulliger Mann
mit kurzen Haaren. Die Menschen im
Ort seien auf ihn angewiesen, er re
pariert Gas und Stromleitungen.
Panin sagt, er wisse von mindes
tens drei Zivilisten, die in den ver
gangenen Wochen getötet wurden.
Er zieht sein Handy aus der Tasche
und zeigt Fotos von zwei Leichen:
einer Frau mit einer roten Jacke, die
mit ausgestreckten Armen auf einem
Feld liegt; einem Mann in kariertem
Hemd, zusammengekauert wie ein
Fötus. Den Bürgermeister haben an
geblich die Russen entführt, als er
in umliegenden Dörfern Hilfsgüter
verteilte.
Inzwischen haben ukrai nische
Truppen die Angreifer um einige Ki
lometer zurückgedrängt, bis hinter
die Grenze zur Region Cherson. Da
durch hat sich auch der Krieg hier
verändert: weg vom Nahkampf mit
Panzern und Infanteristen, hin zum
Gefecht auf Distanz, mit Artillerie
granaten und Raketen.
Am Ortsrand von Schewtschen
kowe, keine 100 Meter von der Auf
fahrt auf die M 14 entfernt, hämmern
laut und nah die Geschütze. Über
einem Feld nördlich des Dorfs steigt
Rauch auf: Eine ukrai nische Feldhau
bitze feuert Granaten Richtung Süden
ab, nach Cherson, wo die russischen
Truppen stehen.
Hierhin hat sich ein wichtiger Teil
der Schlacht um die Südukraine ver
lagert: auf die endlosen Grasfelder
und Äcker entlang der M 14. Beide
Seiten operieren mit Drohnen, die
feindliche Positionen auskundschaf
ten und anschließend die Koordinaten
durchgeben. Dann schlägt die Artil
lerie zu.
Auf den Feldern entlang der Fern
straße sind die Folgen dieses Droh
nenkriegs zu sehen. Das Skelett eines
ukrai nischen Raketenwerfers rostet
auf einer Wiese vor sich hin, offen
sichtlich zerstört durch einen russi
schen Treffer. Zwischen den Feldern
fährt eine Panzerhaubitze Richtung
Süden, eine rasselnde graue Festung
aus der Sowjetzeit. Sie kommt aus der
Richtung von Mykolajiw.
Dort hat eine Truppe ihr Quartier
aufgeschlagen, die eine Schlüsselrol
le im Kampf um den Süden spielt: die
Drohneneinheit Aeroroswidka, ukrai
nisch für Luftaufklärung. Sie ist zu
ständig für die Ortung des Feinds und
Ein wichtiger
Teil des
Kriegs hat
sich auf die
Äcker ent
lang der M 14
verlagert.
M14
UKRAINE
Odessa
Mykolajiw
Saporischschja
Donezk
Luhansk
Mariupol
Melitopol
RUSSLAND
MOLDAU
Krim
von Russland
annektiert
Cherson
prorussisches
Separatisten-
gebiet
S◆Quelle: Institute for the Study of War and Critical Threats Project; Stand: 27. April
Stadt unter russischer Kontrolle umkämpfte Stadt
Vormarsch russischer Truppen
Kiew
Schewtschenkowe
Charkiw
km
Schwarzes
Meer
Kampf um den Landkorridor
Transnistrien
von Moskau unter-
stützte abtrünnige
Teilrepublik Moldaus