Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

AUSLAND


76 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


soll schon zur Verteidigung Kiews entschei-
dend beigetragen haben.
Als Anfang März ein gut 60 Kilometer lan-
ger russischer Militärkonvoi auf die Haupt-
stadt zurollte, brachten Mitglieder der Aero-
roswidka den Konvoi gemeinsam mit Spezial-
kräften zum Stehen. Die Aufklärer fuhren
nachts durch den Wald, auf Quads und mit
Nachtsichtgeräten, und griffen die russischen
Kampfverbände mit kleinen, leicht transpor-
tierbaren Drohnen an. So jedenfalls schildert
es Oberstleutnant Jaroslaw Hontschar, der
Kommandeur.
Hontschar hat nach einigem Zögern zuge-
sagt, einen Einblick in die Arbeit seiner Leute
zu gewähren. Sein Ton ist militärisch schroff,
bisweilen herrisch, aber der 43-Jährige lotst
das SPIEGEL-Team zu seiner Kommandostel-
le, als erste Journalisten überhaupt. Grimmige
Wachposten in Zivil fordern die Besucher auf,
die Handys in den Flugmodus zu schalten.
Dann öffnen sie ein schweres, graues Tor.
Hontschar trägt eine dunkelblaue Daunen-
weste über seiner Flecktarnuniform und hat
die Wintermütze tief ins Gesicht gezogen.
Schwere Lider und dunkle Augenringe deuten
auf schlaflose Nächte hin. Einiges von dem,
was er in der nächsten Stunde erzählen wird,
lässt sich nicht überprüfen.
An einem aber gibt es keine Zweifel: Droh-
nen sind für den Kampf der ukrai nischen Ver-
teidiger unersetzlich. Da ist die türkische
Bayraktar-Drohne, bewaffnet mit lasergelenk-
ten Bomben und Panzerabwehrraketen, die
so zerstörerisch ist, dass sie in der Ukrai ne
schon in Liedern besungen wird. Hinzu kom-
men die handlichen Switchblade-Drohnen,
die die Amerikaner geschickt haben. Sie las-
sen sich im Rucksack tragen und per Fern-
steuerung auf feindliche Panzer oder Trans-
porter lenken, wo sie explodieren. Demnächst
sollen noch modernere Kampfdrohnen kom-
men, Typ Phoenix Ghost, mit Infrarotsenso-
ren ausgestattet und einer Flugzeit von mehr
als sechs Stunden.
Verglichen mit den US-Drohnen muten
Oberstleutnant Hontschars Flugroboter zwar
an wie aus einer Tüftlerwerkstatt. Doch sie
speisen Daten russischer Stellungen in ein
ziemlich effektives IT-System ein.
In einem Raum im Souterrain, fünf mal
fünf Meter groß, sitzen sechs Frauen und fünf
Männer vor Bildschirmen. Die Fenster sind
mit Sandsäcken verbarrikadiert. Hontschar
sagt, man dürfe weder Gesichter noch Moni-
tore fotografieren. An den Wänden hängen
zwei ukrai nische Fahnen, eine mit dem Wap-
pen der Aufklärungseinheit.
Aeroroswidka wurde im Jahr 2014 von
Privatleuten ins Leben gerufen, als der Krieg
im Donbass ausbrach. Zu den Gründern ge-
hörten unter anderem Mitglieder der rechten
Vereinigung Asow. Die Technik-Freaks film-
ten mit Hobbydrohnen feindliche Kampfein-
heiten und spielten ihre Erkenntnisse der
ukrai nischen Armee zu. Später wurde Aero-
roswidka in die Strukturen der ukrai nischen
Streitkräfte integriert. Ihren Start-up-Charak-


ter hat die Einheit aber beibehalten. Außer
Hontschar tragen an diesem Vormittag nur
zwei Männer Militärkluft. Ansonsten gleichen
seine Leute Studenten im Informatikseminar.
Die Frauen und Männer vor den Monito-
ren sind dafür zuständig, Hinweise zu sam-
meln und zu sortieren, die von den Menschen
in den besetzten Gebieten in und um Cherson
kommen – Sichtungen von russischen Pan-
zern, Transportern, Artillerie. Die Hinweise
laufen über den Messengerdienst Telegram
ein. Eine spezielle Software bereitet die Or-
tungen auf und markiert sie auf einer digitalen
Landkarte. Aeroroswidka operiert in allen
umkämpften Gebieten der Ukrai ne: in Char-
kiw im Nordosten, im Donbass, in Saporisch-
schja im Südosten. Das Team im Souterrain
ist für die Südfront zuständig, für Cherson
und Mykolajiw.
Die Erkenntnisse werden an ein halbes
Dutzend Männer im Raum nebenan weiter-
geleitet, sie tragen Pferdeschwanz oder Base-
ballkappe und beugen sich über Excel-Tabel-
len. Diese Gruppe koordiniert die Drohnen-
piloten, etwa 20 Teams, die ihre Maschinen
von wechselnden Orten aus steigen lassen,
mal fliegt nur eine, mal sind es zehn. Die flie-
genden Roboter prüfen, ob die Hinweise aus
der Bevölkerung stimmen. Im Idealfall senden
sie Fotos von russischen Kampfverbänden
zurück. Die Standorte werden an die ukra-
inische Armee weitergeleitet, an Artillerie
und Kampfflieger. »Und die machen dann ihre
Arbeit«, sagt Hontschar.
Er führt zurück in den Innenhof, wo zwei
Mitglieder seiner Einheit vor einem Kleinbus
warten. Aus dem Kofferraum ziehen sie eine
Truhe, in der ein spinnenähnliches Fluggerät
liegt, mit acht Beinen, an deren Ende Rotor-
blätter aus Titan befestigt sind. Das Ding kann
drei Bomben mit einem Gesamtgewicht von
bis zu fünf Kilo abwerfen.

Hontschar blickt nach oben, die Wolken
hängen schwer über der Stadt. Die Orlan-
10-Aufklärungsdrohnen, mit denen das rus-
sische Militär seine Artillerie steuert, müssen
deshalb besonders tief fliegen. Ideal, um sie
vom Himmel zu holen: Hontschars Leute or-
ten sie mithilfe ihres Datensystems und geben
die Koordinaten an die Luftabwehr weiter.
Obwohl die Ukrai ner die russischen An-
greifer zurückgedrängt haben, wird die Stadt
Mykolajiw so gut wie jede Nacht beschossen.
Die russischen Streitkräfte haben die Aufga-
be, nicht nur den Donbass unter ihre Kon-
trolle zu bringen, sondern auch die Südukra-
ine. Das machte der russische General Rustam
Minnekajew jüngst deutlich, als er von einem
»Weg nach Transnistrien« sprach, in jenen
moskautreuen, abtrünnigen Teil der Republik
Moldau, der an die Region Odessa grenzt.
Glaubt man Minnekajew, dann wäre mit-
telfristig die Einnahme von Odessa ein Ziel
Moskaus – und damit eine Seeblockade der
Ukrai ne. Erst vor wenigen Tagen feuerten die
russischen Truppen Marschflugkörper auf die
Stadt ab. Sie trafen einen Wohnblock und
töteten nach ukrai nischen Angaben acht Men-
schen, darunter ein Baby. Am Dienstag be-
schoss Putins Armee eine wichtige Brücke
südlich der Stadt mit einer Rakete.
Dennoch halten die meisten Militärexper-
ten die russischen Streitkräfte für zu schwach,
um bis nach Transnistrien durchzumarschie-
ren. Das liegt auch daran, dass die Ukrai ner
sie immer wieder empfindlich treffen.
Am Morgen, als Jaroslaw Hontschar durch
seine Operationszentrale führt, verbreitetet
sich die Nachricht, dass der ukrai nischen Ar-
mee ein Erfolg an der Südfront gelungen sei.
Laut dem Geheimdienst des Landes trafen
die Verteidiger den vorderen Gefechtsstand
der 49. Russischen Armee in der Region Cher-
son, nahe der Kampflinie. Zwei Generäle der
Besatzer seien »eliminiert« worden.
War Aeroroswidka an dieser Operation
beteiligt? »Korrekt«, antwortet Oberstleut-
nant Hontschar. Viel mehr sagt er nicht. Prü-
fen lässt sich das nicht. Das Verteidigungs-
ministerium in Kiew äußert sich nicht zu der
Frage, ob die Drohneneinheit dabei war. Beim
Militärgeheimdienst heißt es, es habe einen
Austausch mit Aeroroswidka gegeben.
Auf diesen Schlag folgt wenig später der
nächste Erfolg der Ukrai ner an der Südfront.
Das Militär meldet, es habe mehrere Dörfer
südlich von Schewtschenkowe erobert. Die
Stadt Cherson liege in Reichweite. Zugleich
machen aber die russischen Angreifer wenige
Kilometer weiter westlich Geländegewinne.
Manche Militäranalysten glauben, dass Putins
Truppen nun die Kräfte für einen erneuten
Vorstoß in Richtung Mykolajiw bündeln.
Die Dörfer entlang der M 14 bleiben wei-
terhin umkämpft. Auch Schewtschenkowe
wird nach wie vor beschossen, während die
Drohnen am Himmel kreisen. Oleksandra
und Serhij Baschkow bleibt kaum Hoffnung,
in ihr Heimatdorf zurückzukehren, zumindest
Bewohnerin Baschkowa nicht für länger als ein paar Stunden. n

Wolken hängen über der
Stadt – ideal, um russische
Drohnen abzuschießen.

Emre Caylak / DER SPIEGEL
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