Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 77

E


inem Kater geht normalerweise
eine Party voraus. In dieser Wo-
che aber herrscht in Paris Kater-
stimmung, ohne dass gefeiert worden
wäre. »Jetzt beginnt der schwierigste
Part«, habe Emmanuel Macron am
Wahlsonntag um kurz nach 20 Uhr
im Élysée-Palast gesagt, als er die ers-
ten Hochrechnungen sah. Es soll sein
einziger Kommentar gewesen sein.
So berichten es jene, die dabei waren.
Da hatte Macron gerade mit mehr
als 58 Prozent den zweiten Wahlgang
um die Präsidentschaft gewonnen und
verhindert, dass die rechtsradikale
Kandidatin Marine Le Pen ins Élysée
einzieht. Die Franzosen sind seither
erleichtert. Mehr nicht.
Um 21.30 Uhr steht Macron am
vergangenen Sonntag vor dem Eiffel-
turm auf dem Pariser Champ de Mars,
um mit Anhängern und Regierungs-

mitgliedern seinen Sieg zu begehen.
Sich glücklich zeigen über den Aus-
gang der Wahl, aber keine Fanfaren
anstimmen – das war die Devise, die
seine Wahlkampfstrategen ausgege-
ben hatten. Macron hält wahrschein-
lich eine der kürzesten Reden seiner
Amtszeit. An diesem Abend beginne
eine neue Ära, sagt er, es gehe nun
darum, gemeinsam eine neue Metho-
de zu erfinden, für fünf bessere Jahre.
41,5 Prozent – das ist die Zahl, mit
der die Franzosen nun leben müssen.
Es ist das historische Rekordergebnis
von Marine Le Pen und ihrer rechts-
extremen Partei Rassemblement Na-
tional (RN). Die Partei hat sich damit
endgültig als zweite politische Kraft
im Land etabliert.
Von den kommenden fünf Jahren
wird abhängen, ob der Siegeszug Ma-
rine Le Pens 2027 doch noch in den

Verwalter der Wut


FRANKREICH Emmanuel Macron hat durch seinen Wahlsieg eine Präsidentin Le Pen verhindert. Trotzdem ist
das Volk in Aufruhr. Der Präsident muss sich neu erfinden, um den Riss durch das Land zu flicken.

Wahlkämpfer
Macron: Ȇber Nacht
geläutert?«

Élysée-Palast führt oder ob es Macron
gelingt, eine unheimliche Serie zu
stoppen: 2012 erhielt die Kandidatin
des damaligen Front National 18 Pro-
zent im ersten Wahlgang der Präsi-
dentschaftswahlen, fünf Jahre später
34 Prozent in der Stichwahl.

Als Macron vor fünf Jahren überra-
schend zum Präsidenten gewählt wur-
de, war er der Mann, der die Welt
nach Brexit und Trump wieder hoffen
ließ. Gerade einmal 39 Jahre alt, nicht
mit dem alten Parteiensystem ver-
wachsen, ein überzeugter Europäer.
Schon damals versprach er, dem
Rechtsextremismus im eigenen Land
Einhalt zu gebieten. Man traute ihm
das zu. Denn er hatte schon so viele
andere unwahrscheinliche Siege er-
rungen, allen voran den Einzug ins
Élysée wider alle Regeln der Repub-

Benoit Tessier / dpa
Free download pdf