Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

AUSLAND


78 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


lik. Warum also sollte er nicht auch Marine
Le Pen stoppen können?
Spätestens seit Sonntag ist dieses Vorhaben
gefährdet. Le Pen hat in den vergangenen fünf
Jahren zweieinhalb Millionen Wähler hinzu-
gewonnen, Macron dagegen zwei Millionen
Stimmen verloren. Die Franzosen beugen sich
über blau und gelb eingefärbte Landkarten,
um zu verstehen, was passiert ist. Blau ist die
Farbe Le Pens, gelb jene Macrons. Große Tei-
le des französischen Ostens sind blau, abge-
sehen von dicken gelben Blasen, die für die
Städte Reims, Metz und Straßburg stehen.
Ganze Regionen der Mittelmeerküste sind
blau, der Großraum Paris ist sonnengelb.
In manchen Pariser Stadtbezirken kommt
Macron auf knapp 90 Prozent; in anderen
großen Städten wie Rennes, Bordeaux und
Lyon sind es mehr als 80 Prozent. Die Inseln
des Wohlstands haben Macron gewählt, rings-
herum verfärbt sich die Landkarte oft Le-Pen-
blau. Die Überseegebiete Guadeloupe, Mar-
tinique und La Réunion sind sogar tiefblaue
Tupfer, Le Pen kam hier auf über 60 Prozent –
auch dank ihrer Kritik an Macrons rigider
Impfpolitik während der Pandemie. In den
Übersee-Départements waren die Impfgegner
besonders zahlreich.


Der Geograf und Autor Christophe Guilluy hat
den Wahlabend fernab von Paris in den fran-
zösischen Alpen verbracht, an einem Ort, wo
ihn niemand beim Schreiben seines neuen
Buches stören kann, wie er am Telefon sagt.
Im Hintergrund hört man Vögel zwitschern.
Guilluy vermisst seit Jahren akribisch den
Zustand der Republik und dokumentiert ihn
in Karten, in denen er die Korrelation von
politischen Präferenzen, Altersgruppen, Ge-
haltsklassen und Wohnorten festhält. In sei-
nem Buch »La France périphérique« be-
schrieb er ein abgekoppeltes Frankreich jen-
seits der Städte, zu dem die politischen Eliten
in Paris den Kontakt verloren hätten.
Nun wundert er sich, dass sich alle wun-
dern, was bei dieser Wahl geschah. »Die Er-


gebnisse zeigen ein exaktes Abbild der ge-
sellschaftlichen Bruchlinien in diesem Land.
Dieses Bild hat sich aber in den vergangenen
fünf Jahren nicht wirklich verändert. Die Grä-
ben sind nur noch größer geworden zwischen
den urbanen Zentren, den Orten also, wo die
Eliten, die Besserverdienenden und besser
Ausgebildeten wohnen, und den ländlichen
Gebieten«, sagt Guilluy.
Guilluys These ist die einer geografischen
Entkopplung: Zwei Drittel der Arbeitsplätze,
aber auch zwei Drittel des Reichtums im Land
seien mittlerweile in den urbanen Zentren zu
finden, sagt er. Dort zu leben könnten sich
aber die unteren Gehaltsklassen aufgrund der
hohen Immobilienpreise und Lebenshaltungs-
kosten nicht mehr leisten, weshalb sie in die
Peripherie, aufs Land, in kleine und mittlere
Städte, zurückgedrängt würden.
»Seit der Deindustrialisierung Frankreichs
leben also Arbeiter und Angestellte erstmals
nicht mehr dort, wo die Arbeit ist«, so Guilluy.
»Sie fühlen sich abgehängt, ungehört, nicht
beachtet. Sie haben Angst vor der Zukunft.
Deshalb haben sie Le Pen gewählt, weil sie
auf sich aufmerksam machen wollen. Nicht
unbedingt, weil sie rechtsextrem sind. Sie be-
nutzen die populistischen Marionetten für
ihre eigenen Zwecke.« Wie viele von ihnen
inzwischen bereit seien, dieses unmoralische
Votum abzugeben, zeige nur das Ausmaß der
Verzweiflung.
2016 hatte Guilluy einen Termin bei Ma-
cron, um ihm seine Theorie dieses zwei-
geteilten Frankreichs zu erklären. Er brachte
seine Landkarten mit, Macron, der damals
noch Wirtschaftsminister war, nahm sich Zeit.
Macron habe ihm gesagt, er sei sich dieser
Gräben bewusst, aber es sei mühsam, poli-
tische Initiativen für die Menschen an der
Peripherie anzustoßen. Er habe das in seinem
Ministerium mehrmals versucht, es scheitere
oft an der zentralistischen Struktur der Ver-
waltung.
Was empfiehlt Guilluy dem Präsidenten
heute? Das Problem sei, sagt der Geograf,

dass die Mittelklasse zum ersten Mal in der
Geschichte nicht mehr im Zentrum des öko-
nomischen Modells stehe. In vielen Bereichen
brauchte die Wirtschaft Arbeiter und Ange-
stellte nicht mehr. »Aber wir müssen diese
Leute wieder von der Peripherie ins Zentrum
holen, und ich meine das jetzt nicht geo-
grafisch. Wir müssen ihnen politisch Beach-
tung schenken. Sonst fliegt hier irgendwann
der ganze Laden in die Luft.«
Der Autor hält die Gefahr neuer sozialer
Unruhen in den kommenden Monaten für
groß. Unter anderem weil die »Invisibles«,
die Unsichtbaren und Vergessenen, wie sie
genannt werden, nie unsichtbar gewesen
seien. Seit Jahren schon würden sie um Hilfe
schreien, sagt Guilluy, zuletzt bei der Gelb-
westenbewegung 2018/2019. Ihre Probleme
seien nur nie wirklich gelöst worden.
Und der Autor Michel Houellebecq schreibt
in einem Gastbeitrag: »Die Wahl war schon
immer eine Klassenwahl, aber in diesem Aus-
maß war sie es noch nie.« (Siehe Seite 118.)

Drei Tage nach seiner Wiederwahl steigt Em-
manuel Macron in Cergy-Pontoise, 30 Kilo-
meter nordwestlich von Paris, aus seiner Prä-
sidentenlimousine. Es ist sein erster offizieller
Auftritt seit dem Wahlsieg. Den jeweils am
Mittwochvormittag tagenden Ministerrat in
Paris hat er abgesagt – um auf den Markt ge-
hen zu können. Cergy-Pontoise gehört zu den
ärmeren Orten im Großraum Paris, 16 Pro-
zent der Bürger leben laut Statistik hier unter-
halb der Armutsgrenze; im ersten Wahlgang
haben 47,9 Prozent der Wähler für den Links-
radikalen Jean-Luc Mélenchon gestimmt.
Macron verbringt fast zwei Stunden auf
dem Markt, dicht umringt von Menschen. Er
spricht mit jungen Unternehmern, mit Ein-
wanderern. Ein Mann namens Hamadou er-
zählt ihm von den Schwierigkeiten, hier
Arbeit zu finden. Ein anderer ruft nach ihm:
»Monsieur, Monsieur«. Macron weist ihn nicht
zurecht, sondern posiert lächelnd mit ihm für
ein Selfie. Irgendwann fliegen Kirschtomaten
in Richtung des Präsidenten, treffen ihn aber
nicht. Die Leibwächter spannen Schirme auf,
Macron geht unbeeindruckt weiter.
Das Interessante an diesem Vormittag: Der
Präsident hört zu, er sagt kaum etwas. Er, der
so gern doziert, belehrt und sich rechtfertigt,
steht auf einmal da, hat den Zeigefinger nach-
denklich aufs Kinn gelegt und lässt die ande-
ren reden. Es wirkt, als hätten seine Berater
ihm eine Schweigekur verordnet.
Sollte das der neue Macron sein? »Ich habe
die Botschaft verstanden, dieses Gefühl, aufge-
geben worden zu sein«, sagt er in Cergy. Er wol-
le Vierteln und Städten, in denen es die Men-
schen schwer haben, helfen, so verspricht er, und
zwar »schneller und besser als zuvor. Aber ich
weiß nicht, ob wir das schaffen werden«.
Es ist ein neuer Sound – bescheidener, stil-
ler, weniger abgehoben. Aber wie glaubwür-
dig ist ein über Nacht geläuterter Präsident?
Wie lange wird es diesen Macron geben, der
S◆Quelle: Französisches Innenministerium sich selbst Demut verordnet?


Macrons Scherbenhaufen


Sieger der französischen Stichwahlen
in den Kommunen


(^20172022) Hochburgen
von Le Pen
Straßburg
Lyon
Marseille
Bordeaux
Nantes
Paris
Macron
gewinnt
in Paris
mit ­€,ƒ%
Vorsprung in
Prozentpunkten Macron
… ƒ… †… ‡…
Le Pen
Überseegebiete Korsika
Rennes

Free download pdf