Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 79

»In drei Wochen werden wir wissen,
ob Macron weiter regiert wie bisher.
Ob er also der Alte bleibt oder ob wir
einen neuen Macron sehen werden«,
sagt Maurice Szafran. Der Journalist
kommt gerade aus einer Talkshow,
es gibt viel Erklärungsbedarf in die-
sen Tagen. »Le Monde« schreibt in
einem Editorial, bei dieser Wahl sei
offenbar geworden, wie tiefgehend,
wie fest implantiert das »malheur
français«, das Unglück der Franzosen,
sei. Es sei deshalb nicht übertrieben,
das Land zu einer Gruppentherapie
aufzurufen.
Szafran hat gemeinsam mit einem
Kollegen ein Buch geschrieben, das
sich der Frage widmet, warum dieser
Präsident so irritierend viel Hass auf
sich zieht, so extreme Reaktionen
provoziert, mehr als seine Vorgänger.
Die Abneigung des Volkes trifft zwar
irgendwann alle französischen Präsi-
denten, bei Macron aber war es schon
früh anders: Nicht Abneigung, son-
dern Hass schlug ihm entgegen.
Dabei konnte man anderen Präsi-
denten weit mehr Vergehen nach-
weisen: Der Gaullist Jacques Chirac
bediente sich jahrelang schwarzer
Kassen, der Konservative Nicolas
Sarkozy ließ sich vom Industriellen
Vincent Bolloré dessen Jacht zur Ver-
fügung stellen. Und der Sozialist
François Hollande unterhielt eine Af-
färe zu einer Schauspielerin – auch
wenn das in Frankreich nicht als Ver-
gehen gilt.
»Aber von keinem seiner Vorgän-
ger wurden Fotos, an Holzstöcken
aufgespießt, bei Demonstrationen
durch Paris getragen. Keinem von
ihnen schlug so viel physischer Hass
entgegen«, sagt Szafran.
Natürlich habe Macron Fehler ge-
macht, so Szafran, seine arroganten
Bemerkungen zu Beginn seiner Amts-
zeit sei er bis heute nicht losgewor-
den. Seine hohe Begabung sei auch
ein Problem. Sein Alter, sein Werde-
gang, seine Intelligenz würden Ma-
cron auf gewisse Art zu einem Außer-
irdischen machen, erklärt einer seiner
Berater in Szafrans Buch.
Nur 22 Prozent der Franzosen und
Französinnen glauben laut einer Um-
frage des Instituts Ipsos, dass ihr Prä-
sident etwas von ihren Sorgen, ihrem
Alltag versteht. 44 Prozent von ihnen
trauten das in derselben Umfrage Ma-
rine Le Pen zu, die im Wahlkampf
geschickt in die Rolle der Fürspreche-
rin des Volkes geschlüpft war. Macron
blieb »le petit roi«, »der kleine Kö-
nig« in Paris. Le Pen wurde im Wahl-
kampf zu Marine, zu einer Kandida-
tin, die man nur noch beim Vornamen
nannte. »Ich verstehe, was sie sagt,


und sie versteht uns«, so erklärte es
eine ihrer Anhängerinnen auf einer
Wahlkampfveranstaltung in Per-
pignan.
Und man dürfe eines nicht verges-
sen, sagt Szafran: »Macron hat die
Regeln der fünften Republik nicht
respektiert, nach denen man Präsi-
dent wird, auch das nehmen die Leu-
te ihm übel. Er ist nicht den klassi-
schen Weg gegangen, hat nicht jahre-
lang auf Parteitagen gesessen und sich
mühsam an die Spitze gearbeitet. Er
hat einfach eine Abkürzung genom-
men. Es klingt vielleicht absurd, aber
diesem zutiefst konservativen Land
fällt es schwer, ihm das zu verzeihen.«
So wie er an die Macht gekommen
ist, so regierte Macron in den vergan-
genen fünf Jahren auch: im Allein-
gang. Viele Entscheidungen traf er
eigenmächtig, manche entgegen dem
Rat seiner Minister. Im Januar 2021,
während der Pandemie, entschied er
sich gegen einen erneuten Lockdown,
obwohl der Wissenschaftsrat der Re-
gierung das Gegenteil empfohlen hat-
te. Das Parlament umging er oft.
Meint er sein Versprechen aus der
Wahlnacht ernst, Präsident aller Fran-
zosen und Französinnen sein zu wol-
len, wird er vieles anders machen
müssen. Er wird Gewerkschaften, das
Parlament und andere Parteien in
politische Entscheidungsprozesse ein-
binden müssen.
Macron selbst hat eine Reform der
Institutionen angekündigt, er will
Bürger und Bürgerinnen in politische
Entscheidungen einbeziehen und sie
Vorschläge in Bürgerkomitees ent-
wickeln lassen. Das hat er zum Beispiel
beim Schul- und beim Gesundheits-
wesen vor, neben der geplanten Ren-
tenreform zwei der drei Großprojek-
te seiner zweiten Amtszeit.
Außerdem will er, zumindest teil-
weise, das Verhältniswahlrecht ein-
führen, damit Parteien, die Millionen
Wählerstimmen bekamen, nicht mehr
nur mit acht Abgeordneten im Parla-
ment vertreten sind wie heute. Den
künftigen Premierminister oder die
künftige Premierministerin will er zur
ersten Beauftragten für Umwelt-
schutz machen. Frankreich wirkt ge-
rade wie eine Riesenbaustelle.
Am Mittwoch verhandelten die
Sozialisten erstmals mit Vertretern
der linksradikalen Partei La France
Insoumise, die bei dieser Wahl zur
dritten Kraft im Land wurde, um sich
eventuell bei den Parlamentswahlen
im Juni gemeinsam aufzustellen. Soll-
te dies gelingen, würden die Sozia-
listen in einer Allianz mit dem Chef
der Linksradikalen antreten, einem
Mann, der die Nato verlassen möch-

Warum
zieht dieser
Prä sident
so irri tierend
viel Hass
auf sich?

te und die französischen Waffenliefe-
rungen an die Ukraine ablehnt.
Macrons Projekt, seine beiden Part-
ner im Parlament, das zentristische
Mouvement Démocratique und die
Partei Horizons seines ehemaligen Pre-
miers Édouard Philippe, zur Gründung
einer neuen, gemeinsamen Partei zu
bewegen, gilt schon jetzt als geschei-
tert. Beide wollen sich ihren Einfluss
und ihre Eigenständigkeit bewahren.
Denn seit vergangenem Sonntag
ist auch der Kampf um Macrons
Nachfolge entbrannt. Laut Verfassung
kann der Präsident nicht ein drittes
Mal in Folge antreten. Édouard Phi-
lippe, nach wie vor der beliebteste
Politiker des Landes, gilt als fest ent-
schlossen, Macron ins Élysée zu fol-
gen. Andere werden hinzukommen.
Spätestens am 14. Mai muss gemäß
Verfassung Macrons zweite Amtszeit
beginnen. Bis dahin muss er einen
neuen Premierminister ernennen, da-
nach für eine möglichst solide Mehr-
heit im Parlament sorgen. Denn ohne
die würde das Regieren in den kom-
menden Jahren schwierig.
Was das Wahlergebnis, die vielen
Stimmen für Le Pen und die vielen
Enthaltungen bei ihm ausgelöst hät-
ten, wollte ein Journalist auf dem Wo-
chenmarkt von Cergy-Pontoise vom
wiedergewählten Präsidenten wissen.
»Ich empfinde nun noch mehr Ver-
antwortung als zuvor«, antwortete
Macron, »denn ich bin der Verwalter
dieser Wut.«
Als Präsident darf man nicht ge-
liebt werden wollen, hatte Macron in
einem SPIEGEL-Gespräch fünf Mona-
te nach seiner Wahl 2017 gesagt. Was
natürlich schwierig sei, fügte er hinzu,
da jeder geliebt werden wolle.

Protestierende im
westfranzösischen
Nantes am vergan-
genen Wochenende:
»Irgendwann fliegt
der Laden in die Luft«

Britta Sandberg n

Loic Venance / dpa
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