Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

AUSLAND


82 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


D


er Regierungschef wählte einen
geschichtsträchtigen Anlass,
um mitten im Ukrainekrieg
seinen westlichen Verbündeten das
Misstrauen auszusprechen. Weder die
USA noch die EU würden »mit einem
ungarischen Kopf denken und mit
einem ungarischen Herzen fühlen«,
sagte Viktor Orbán. Russland blicke
auf seine Interessen, die Ukraine auf
ihre. Ungarn müsse das Gleiche tun –
denn sein Land, so Orbán, könne in
diesem Krieg »nichts gewinnen«. Als
ob es darum ginge.
Ausgerechnet in seiner Rede zum



  1. März – dem Jahrestag der unga-
    rischen Revolution von 1848, die mit
    russischer Hilfe niedergeschlagen
    wurde – hat Orbán Russlands Präsi-
    denten Wladimir Putin damit ein Ge-
    schenk gemacht: Ungarn, dessen Si-
    cherheit und wirtschaftliches Wohl-
    ergehen von Nato und EU garantiert
    werden, verfolgt nur seine eigenen
    Interessen, selbst wenn das Nachbar-


land Ukraine brutal überfallen wird.
»Gott über uns allen«, lauteten Or-
báns Schlussworte, »Ungarn vor al-
lem anderen!«
Damit hat Orbán die letzten Ver-
bündeten verprellt, die ihm in Europa
geblieben sind. Deutschland und die
EU stehen indes vor den Scherben
ihrer Ungarnpolitik: Sie haben weit-
gehend tatenlos zugesehen, wie Or-
bán mitten in Europa eine Autokratie
errichtet hat. Die Europäische Volks-
partei, zu der neben CDU und CSU
Orbáns Fidesz zählte, zögerte über
Jahre, den Ungarn vor die Tür zu set-
zen, ehe er im vergangenen März
selbst austrat. Insbesondere die CSU
hat den selbst ernannten illiberalen
Demokraten aus Budapest hofiert,
während die langjährige Kanzlerin
Angela Merkel versuchte, Orbán mit
Beschwichtigungspolitik einzuhegen.
Das war ein spektakulärer Fehl-
schlag. In der Ukraine herrscht Krieg,
der EU droht eine Energiekrise – und

Endgültig im Brunnen


UNGARN Die EU steht vor den Trümmern ihrer Politik gegenüber Budapest.


In der Ukrainekrise gilt Viktor Orbán eher als Putins Mann. Nun will


Brüssel ihm Milliarden streichen – doch der Autokrat kann zurückschlagen.


Premierminister Orbán, Präsident Putin in Moskau: »Ungarn vor allem anderen«


sie steuert nun auf den Showdown
mit einem unberechenbaren Auto-
kraten in den eigenen Reihen zu.
Die Kommission hat diese Woche
erstmals den neuen Mechanismus zum
Entzug von Fördermitteln aktiviert. In
einem 43-seitigen Brief, der dem
SPIEGEL vorliegt, wirft die Behörde
Ungarn »systemische Unregelmäßig-
keiten« vor allem im öffent lichen Be-
schaffungswesen vor. Im Kampf gegen
die Korruption wird Ungarn eine
»kontinuierliche Verschlechterung«
attestiert. Die Missstände hielten trotz
ständiger Mahnungen »seit vielen
Jahren« an. Deshalb, so die Kommis-
sion, habe man keine andere Wahl
mehr, als den Haushaltsmechanismus
einzusetzen, um weiteren Missbrauch
zu verhindern.
Ungarn droht damit der Verlust
von Milliarden Euro aus Brüsseler
Töpfen, einem der wichtigsten
Schmiermittel des Systems Orbán.
Wie viel genau er verlieren könnte,
ist noch offen – der Mittelentzug muss
sich am Schaden für den EU-Haushalt
orientieren. Aber systemische Ver-
stöße könnten nach Angaben eines
Kommissionsbeamten besonders
schwere Konsequenzen nach sich zie-
hen, und genau die wirft die Kommis-
sion Ungarn vor.
Spätestens Anfang 2023, vielleicht
auch schon in diesem Herbst, wird
der Dialog zwischen Brüssel und Bu-
dapest nach Angaben der Kommis-
sion beendet sein. Dann wird die Be-
hörde von Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen aller Voraus-
sicht nach dem Rat der Mitglieds-
länder empfehlen, den Geldentzug
zu beschließen.
Anders als etwa die polnische Re-
gierung, die ebenfalls ein Rechts-
staatsverfahren der EU im Nacken
hat, kann Orbán den Streit mit Brüs-
sel nicht kurzerhand mit einer Justiz-
reform oder einigen Gesetzesände-
rungen beilegen. Korruption und
Nepotismus durchziehen Ungarn
endemisch: Die Verwaltung bis ins
kleinste Dorf, die Gerichte, die Uni-
versitäten, die Theater, die Kranken-
häuser und viele Unternehmen sind
besetzt mit Getreuen des Regierungs-
chefs. »Um das System Orbán zu
beseitigen, müsste Orbán sich selbst
abschaffen«, sagt einer der weni -
gen unabhängigen Publizisten in Bu-
dapest.
Das aber wird kaum passieren.
Erst Anfang April wurde Orbán mit
haushohem Vorsprung wieder-
gewählt, im Parlament hat seine
Fidesz-Partei eine Zweidrittelmehr-
heit und kann damit die Verfassung
ändern.

Kommissionschefin
von der Leyen:
Lackmustest beim
Sondergipfel

TASS / ddp

Rajat Gupta / epa
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