Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 83

AUSLAND

Markus Becker, Matthias Gebauer, Jan Puhl,
Fidelius Schmid n

»Das Kind ist endgültig in den Brunnen
gefallen«, sagt der FDP-Europaabgeordnete
Moritz Körner. Jetzt werde Orbán seine
Macht weiter festigen. »Es wird fast unmög-
lich sein, ihn auf demokratischem Weg zu
entmachten.«
In der EU aber wird es einsam um Orbán.
Der tschechische Populist Andrej Babiš – ab-
gewählt. Orbáns enger Vertrauter und Ge-
sinnungsfreund, der Slowene Janez Janša –
abgewählt. Bulgariens korrupter Herrscher
Bojko Borissow und die nicht weniger kor-
rupte Regierungspartei in Rumänien – eben-
falls entmachtet.
In Polen ist die nationalkonservative PiS-
Partei zwar noch an der Macht. Doch mit
seiner russlandfreundlichen Ukrainepolitik
hat Orbán seinen bislang engsten Alliierten
verprellt. »Wenn jemand die Verbrechen nicht
beim Namen nennen will, dann begeht er
einen Riesenfehler«, sagte Polens Premier
Mateusz Morawiecki. Ein Treffen der Vise-
grád-Gruppe, der neben Polen, Tschechien
und Ungarn die Slowakei angehört, platzte
kürzlich wegen der lauen Haltung Budapests
zum Überfall auf die Ukraine. »Das Bündnis
der Visegrád-Staaten ist praktisch zerbro-
chen«, sagt Michael Roth (SPD), Vorsitzender
des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags.
Insbesondere die Polen würden Orbán »sei-
nen Umgang mit der Ukraine sicher nicht ver-
zeihen«.
Orbáns Nähe zu Wladimir Putin sorgt
für wachsenden Argwohn in der EU. Ende
März kamen Berichte auf, laut denen rus-
sische Hacker Ungarns Außenministerium
komplett unterwandert haben – verbunden
mit Vorwürfen, Orbáns Leute hätten lange
davon gewusst, aber lasch reagiert und
vor allem ihre Verbündeten im Unklaren
gelassen.
Das sorgt auch in der Nato für Besorgnis.
Man halte die Berichte über den russischen
Hack für authentisch, heißt es aus dem Brüs-
seler Hauptquartier der Militärallianz. Aus
anderen Hauptstädten ist zu hören, dass
Geheimdienste zunehmend skeptisch seien,
was die Zusammenarbeit mit Ungarn be-
trifft – aus Angst davor, dass sensible Infor-
mationen über Budapest direkt nach Moskau
abfließen könnten.
Für Orbán kommt die Affäre zur Unzeit,
denn sie fügt sich ins Bild seiner Putin-Nähe.
Zwar hat er bisher die fünf Sanktionspakete
der EU mitgetragen. Gegen einen Stopp rus-
sischer Öl- und Gaslieferungen aber oppo-
niert kein EU-Land heftiger als Ungarn, und
bis heute verbietet Orbán, Waffen über un-


garisches Territorium an die Ukraine liefern
zu lassen.
Auch Orbáns Umgang mit Flüchtlingen aus
der Ukraine scheint wenig geeignet, seine ehe-
maligen Freunde zu besänftigen. Im März
verlangte er in einem Brief an Kommissions-
chefin von der Leyen mehr Geld – weil
Ungarn über 450 000 Flüchtlinge aufgenom-
men habe. Wenig später sprach Orbán in
einem Radiointerview bereits von 500 000
Flüchtlingen. Ungarn trage damit im Verhält-
nis zu seiner Bevölkerung »die größte Last«,
größer noch als Polen, tönte Orbán.
Was er nicht erwähnte: Die meisten Flücht-
linge haben sein Land offenbar längst ver-
lassen. Die ungarische Ausländerbehörde hat
zwischen dem Beginn der Invasion am


  1. Februar und dem 22. April ganze 17 690
    Asylanträge registriert. In Polen gab es da-
    gegen bereits am 13. April rund 846 000 An-
    träge auf temporären Schutz.
    Die Entfremdung von seinen früheren
    Partnern könnte Orbán teuer zu stehen kom-
    men – denn sie fehlen ihm nun, um den dro-
    henden Entzug von EU-Fördermitteln zu
    blockieren.
    Sollte die EU-Kommission, wie zu erwar-
    ten, dem Rat der Mitgliedsländer demnächst
    empfehlen, Ungarn Fördermittel zu streichen,
    müssten mindestens 15 der 27 EU-Staaten mit
    zusammen 65 Prozent der EU-Bevölkerung
    dafür stimmen. Diese Hürde galt einst als
    hoch. Doch mittlerweile erscheint nur schwer
    vorstellbar, dass Orbán eine Blockade orga-
    nisieren könnte. »Wer soll in der aktuellen
    Situation dafür eintreten, dass Orbán weiter
    EU-Gelder verprassen kann?«, fragt sich ein
    EU-Diplomat.
    Wie Orbán auf den Geldentzug reagieren
    würde, ist offen. Einen Bruch mit der EU hält
    SPD-Mann Roth für unwahrscheinlich. »Or-
    bán weiß genau, dass er das Geld und die
    politische Unterstützung, die er braucht, we-
    der aus China noch aus Russland verlässlich
    bekommen kann.«
    Die Inflation ist hoch, im Wahlkampf hat
    Orbán mit Geld nur so um sich geworfen,
    sein Machtsystem hängt auch von den EU-
    Mil liarden ab. Wird er dem Geldentzug ta-
    tenlos zuschauen? Oder wird er die anderen
    Staaten mit seinem Vetorecht erpressen, mit
    dem er die EU auf Feldern wie der Außen-,
    Sicherheits- und Finanzpolitik nahezu voll-
    ständig lahmlegen kann? Als Lackmustest
    gilt der EU-Sondergipfel Ende Mai, bei dem
    die weitere Ukrainestrategie auf der Tages-
    ordnung steht.
    Für die EU ist die Situation »brandgefähr-
    lich«, sagt FDP-Politiker Körner. Sie stehe
    im »geopolitischen Kampf der Demokratien
    gegen Autokratien«, sie hat es mit Putin,
    Chinas Staatschef Xi Jinping und bald wo-
    möglich wieder mit einem US-Präsidenten
    Donald Trump zu tun. »Orbán«, sagt Körner,
    »ist das trojanische Pferd von Putin, Xi und
    Trump.«


»Wenn jemand die Ver­


brechen nicht beim Namen


nennen will, dann begeht


er einen Riesenfehler.«


Mateusz Morawiecki,
polnischer Ministerpräsident


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