Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 85

Dodik ist nur ein Bauer auf Wladimir Putins
großem Schachbrett, allerdings ein weit nach
Westen vorgeschobener. Von seinem Amtssitz
aus sind es nicht mehr als 50 Kilometer bis zur
EU-Außengrenze. Der serbische Ultranatio-
nalist zündelt unter den Augen des vereinten
Europa und rühmt sich dabei seiner Kontakte
zum Kremlchef, der ihn im Dezember zum
wiederholten Male empfing. Regelmäßige stra-
tegische Anweisungen an Dodik ergehen durch
Außenminister Sergej Lawrow und den russi-
schen Botschafter, Igor Kalabuchow.
Der Kremldiplomat hat vorsorglich bereits
klargestellt, was Bosnien blühen würde, soll-
te es über die »Partnerschaft für den Frieden«
hinaus eine weitere Annäherung an die Nato
ins Auge fassen: »Am Beispiel der Ukraine
haben wir gezeigt, was wir erwarten; wenn
wir bedroht werden, reagieren wir.« Nicht
nur in Sarajevo wurde das als Akt der Ein-
schüchterung bewertet.
»Ich habe Dodik gesagt, er soll keine Ar-
mee bilden, und er hat das akzeptiert« –
mit diesem Satz versuchte in der vorvergan-
genen Woche Serbiens Präsident Aleksandar
Vučić klarzustellen, wer im serbischen Lager
tatsächlich das Sagen hat. Auch Vučić un-
terhält intensive Kontakte zum Kreml und
wird regelmäßig von Putin empfangen. Die
Verurteilung der russischen Invasion der
Ukraine im Uno-Sicherheitsrat unterstützte
er jedoch. Die EU-Aufforderung, sich den
Sanktionen anzuschließen, lehnt er hingegen
ab.
Vučić gilt als Großmeister in der Kunst,
Klarheit zu vermeiden. Sein Land, das be-
völkerungsreichste auf dem Gebiet Ex-Jugo-
slawiens, regiert der effiziente Autokrat mit
harter Hand und sorgsam ausdifferenzierter
Pendelpolitik.
Serbien ist EU-Beitrittskandidat, was den
Präsidenten aber nicht davon abhält, mit dem
Kreml zu flirten, die serbisch-chinesische
Freundschaft zu preisen und sich in Washing-
ton als einziger Anker der Stabilität auf dem
Balkan zu verkaufen.
Eben erst für eine weitere Amtszeit wie-
dergewählt, spürt Vučić seit Beginn des Kriegs
in der Ukraine verstärkten Druck, eindeutiger
Stellung zu beziehen – Druck aus der EU,
aber auch aus den USA, die mit dem balkan-
erfahrenen Veteranen Christopher Hill Ende
März ein Schwergewicht in die Botschaft nach
Belgrad entsandten. Vučić aber lehnt es un-
verändert ab, sich deutlich zu positionieren.
Sein Land hat sich zuletzt unter anderem mit
chinesischen Flugabwehrsystemen für den
Ernstfall gerüstet.
»Viele«, äußerte Vučić vor Kurzem gewohnt
vage, hätten ein Interesse daran, den Balkan
zu destabilisieren. An sich selbst denkt er da-
bei nicht. Die Boulevardzeitung »Informer«,
die einem engen Vučić-Freund gehört, titelte
zu Beginn der russischen Invasion: »Die Ukrai-
ne hat Russland angegriffen.« Und durchs Zen-
trum von Belgrad marschierten Tausende, die


»Putin, Putin. Serbien und Russland, Brüder
für immer« skandierten. Noch im vergangenen
Jahr gaben zwei Drittel aller Serben an, sie
hätten ein »sehr positives« Bild von Putin.
Vučić braucht Russland als Vetomacht,
wenn es im Uno-Sicherheitsrat darum geht,
die endgültige völkerrechtliche Anerkennung
der ehemals serbischen Provinz Kosovo zu
verhindern. Und er braucht Russland als
leuchtendes Gegenbeispiel, wenn es einmal
mehr an die von 19 Nato-Staaten mitgetrage-
nen Bombardements 1999 gegen Serbien zu
erinnern gilt.
So wie Russland seine imperialen Ambi-
tionen mit dem Schlagwort »russkij mir« – die
russische Welt – unterfüttert, so ist in Serbien
wieder zunehmend von »srpski swet« – der
serbischen Welt – die Rede: ein Begriff, der
Fürsorgepflicht für all jene Gebiete beinhaltet,
in denen Serben leben.

Weniger aus Überzeugung denn aus Kalkül
scheint auch Vučić der großserbischen Rhe-
torik der Neunzigerjahre unter Slobodan
Milošević weiter Raum zu geben. Laut einer
Umfrage aus dem April spricht sich zum ers-
ten Mal überhaupt eine Mehrheit der Serben
gegen einen EU-Beitritt aus.
Vučić träume von »einem großen, mäch-
tigen Serbien, vor dem man sich fürchtet, zu
dem man aufblickt und das den einzig be-
deutenden Posten im Land fix vergeben hat


  • an ihn selbst«, sagt der in Wien lehrende
    Politologe Vedran Džihić. Nicht nur in Ser-
    bien, auch im Kosovo werde derzeit massiv
    aufgerüstet.
    In Bosnien wiederum bestehe die Gefahr,
    dass »Dodik beginnt, da und dort ein wenig
    zu zündeln und eine kleine Nebenfront zum
    Ukrainekrieg zu eröffnen – ich bin überzeugt,
    dass genügend russische Geheimdienstler in
    der RS aktiv sind«. Die gesamte Situation auf
    dem Balkan sei »extrem heikel«, sagt Džihić,
    »es gibt derzeit in der Region so gut wie nichts
    Beruhigendes«.
    Viel wird nun von Frankreichs wieder-
    gewähltem Präsidenten Emmanuel Macron
    abhängen. Schafft er es, in den verbleibenden
    zwei Monaten der französischen EU-Präsi-
    dentschaft eine Integration des Westbalkans
    in die EU voranzutreiben? Die Aufnahme von
    Beitrittsverhandlungen mit Albanien und
    Nordmazedonien zu forcieren, Fortschritte in
    der Kosovofrage zu erzielen?
    Die Art und Weise, wie und wann die EU
    auf die Spannungen in ihrer unmittelbaren
    Nachbarschaft reagiert, wird wegweisend
    sein. Auch für den Kreml.
    Walter Mayr n


Russlandunterstützer bei Fußballspiel in Belgrad*: Flirt mit dem Kreml

Sarajevo

Banja Luka
Belgrad

KROATIEN (EU)

SERBIEN

KOSOVO

BOSNIEN UND
HERZEGOWINA

MONTE-
NEGRO

100 km

Föderation Bos nien und H erzego wina
Republika Sr pska Dis trikt Brčko


  • Mit durch russisches Kriegssymbol markierter Flagge. S Karte: OpenStre etMap


Andrej Isakovic / AFP
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