AUSLAND
88 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022
W
enn es ihr wieder zu viel wird, wenn
sie nicht weiß, wohin mit ihrer Wut
und Angst, geht sie hinaus in den
Schuppen. Nimmt einen Schweißbrenner,
schüttet Granulat über Metallplatten und flam-
biert das schmelzende Material zu abstrakten
Objekten. Die Kunstwerke von Reality Win-
ner zeigen, was heute noch in ihr wühlt, fast
fünf Jahre nachdem sie ihr Leben umwarf.
In eines ihrer Werke hat sie spitze Flaschen-
scherben eingearbeitet, in ein anderes Erin-
nerungen an ihre Odyssee – eine Trocken-
blume, einen Zeitungsartikel über Salman
Rushdie, den handgekritzelten Zettel mit Fit-
nessübungen, die ihr dabei halfen, im Gefäng-
nis zu überleben: Liegestütze, Kniebeugen,
Bauchpressen. Das Gefängnis hat sie hinter
sich, doch gefangen fühlt sie sich immer noch.
Reality Leigh Winner, 30 Jahre alt, heißt
wirklich so. Ihr Vater Ronald Winner gab
ihr diesen Namen, damit sie, wie er sagte,
eine echte Gewinnerin wird: »A real winner«.
Dass ihr Heimatland USA sie stattdessen als
Staatsfeindin brandmarken würde, sah keiner
voraus.
Es gab Momente, da wollte sie nicht mehr
und hatte schon den Plan gefasst, ihr Leben
zu beenden. »Den Dienst hinschmeißen«,
sagt Winner, da klingt die Air Force durch.
Den Dienst am Leben.
Dieses Leben änderte sich am 10. Mai
- Es war der Tag, an dem Winner der
investigativen Website »The Intercept« ein
Dokument zuspielte: einen fünfseitigen,
mit »Top Secret« markierten Bericht des
Geheimdiensts NSA, wonach Russland ver-
sucht habe, die US-Präsidentschaftswahl
2016 mit gezielten Cyber-Angriffen zu be-
einflussen. Es war ein explosives Schreiben,
das Einblick in die Erkenntnisse der Aus-
spähbehörde vermittelte. Winner wurde
überführt und wegen Spionage zu mehr als
fünf Jahren Haft verurteilt, die höchste Stra-
fe für eine zivile Whistle blowerin in der
US-Geschichte.
»Ich übernehme die volle Verantwortung
für meine Handlungen«, sagt Winner heute.
»Aber ich hätte nie gedacht, dass ich dafür
eingesperrt würde. Oder dass ich bis heute
täglich neu beweisen muss, dass ich keine Ter-
roristin bin.«
Wie eine Terroristin sieht sie nicht aus.
Hoodie, pinke Hose, die Spitzen der blonden
Dreadlocks dunkelrosa gefärbt und hochge-
knotet. Sie spricht leise, höflich, bedacht, in
sanftem Südstaaten-Singsang.
Anonyme Informantinnen und Informan-
ten haben Tradition im amerikanischen Jour-
nalismus. Von Watergate über die »Pentagon
Papers« bis zur Soldatin Chelsea Manning
und dem NSA-Mitarbeiter Edward Snowden,
die hochbrisante Geheimdokumente enthüll-
ten: Informanten und Whistleblower wurden
verfolgt und, falls sie gefasst wurden, zumeist
inhaftiert. Sie wurden zu Prominenten, Mär-
tyrern, Ikonen.
Reality Winner kennt dagegen kaum je-
mand. Nach dem Urteil war sie schnell ver-
gessen, von den Medien und der Politik. »Was
Reality getan hat, war kein Landesverrat«,
sagt ihre Mutter Billie Winner-Davis, eine
zarte Frau mit Sorgenfalten, die mit Covid-19
im Bett liegt, als ihre Tochter den SPIEGEL
begrüßt. »Es war Patriotismus.«
Warum ging sie das Risiko ein? Das kann
Winner immer noch nicht richtig erklären.
Vieles kam zusammen. Ihre Kindheit, die
Anschläge vom 11. September, Afghanistan,
der Drohnenkrieg, ihr 2016 verstorbener
Vater, Donald Trump und das Gefühl der
Machtlosigkeit in einer ungerechten Welt.
Seit November ist sie frei, aber von Frei heit
lässt sich kaum reden. Manchmal denkt
sie, dass es im Gefängnis fast besser war,
denn da wusste sie wenigstens, woran sie
w a r.
Die Staatsfeindin
USA Die Whistleblowerin Reality Winner leakte ein fünfseitiges
Dokument, das zeigt, wie sich Russland im Jahr 2016 in den
US-Wahl kampf eingemischt hat. Zur Strafe zerstörte die Justiz ihr Leben.
Ex-Dolmetscherin
Winner
Christopher Lee / DER SPIEGEL