Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
AUSLAND

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 89

Ausriss aus geleak-
tem NSA-Dokument:
»Es war Patriotismus«

Winner ist in Kingsville aufge-
wachsen, wo sie nun wieder lebt, in
einem staubigen Ort in Südtexas. Zur
Golfküste sind es 30 Minuten mit
dem Auto, nach Mexiko zwei Stun-
den, dazwischen Farmen, Weiden,
Windräder. Nach ihrer Entlassung aus
dem Gefängnis zog sie zurück ins
Elternhaus, mit ihrer Mutter, dem
Stiefvater und einer elektronischen
Fußfessel.
Das Haus, ein umgebauter Trailer,
der inzwischen keine Räder mehr hat,
ist hell und einladend. In Regalen ste-
hen Porzellanengel, an der Wand
hängen Messingkreuze und Sinnsprü-
che: »Tu alles, was du tust, mit Lie-
be.« Es riecht nach Vanille-Duftker-
zen. Ein gerahmtes Foto zeigt Winner
in einer feldgrünen Air-Force-Uni-
form, »WINNER« auf die Brusttasche
gestickt. Sie lächelt sanft.
Die Fußfessel ist sie inzwischen
los. Aber bis heute darf sie nicht über
ihre Anklage reden, obwohl sie jeder
im Internet nachlesen kann. Auch
das Gespräch mit dem SPIEGEL muss
sie ihrem Bewährungshelfer melden.
»Ich bleibe auf Dauer beschmutzt«,
sagt sie, eine Träne läuft über ihre
Wange. »Beschmutzt von dem Vor-
wurf, zu genau den Gruppen zu
gehören, die ich mal bekämpfen
wollte.«
Beinahe wäre sie Ingenieurin ge-
worden, erzählt sie. Doch anders als
ihre ältere Schwester Brittany ent-
schied sie sich gegen das Studium.
»Ich wollte nicht vier weitere Jahre
Kind sein«, sagt sie. »Ich interessier-
te mich für größere Ideen.«


Sie hat das von ihrem Vatergeerbt.
Während ihre Mutter, eine Sozial-
arbeiterin, die Familie über Wasser
hielt, war Ronald Winner seit einem
Autounfall arbeitsunfähig und hatte
viel Zeit, über die Welt nachzudenken.
»Mit ihm konnte ich über das Leben
reden«, sagt Winner. »Davon verstand
er viel.« Ronald Winner besaß eine
Erstausgabe von Salman Rushdies
»Satanischen Versen«, sie stand unten
links im Bücherregal, neben den Ste-
phen-King-Romanen der Mutter. »Er
war besessen davon«, sagt Winner.
Menschen seien für dieses Buch ge-
storben, habe er berichtet.
Sie lernte von ihrem Dad, dass sich
Mut auszahlt. Am 11. September
2001 war Winner neun Jahre alt, ihre
Eltern lebten da schon getrennt. Rea-
lity verbrachte viele Wochenenden
mit ihrem Vater, im Auto diskutierten
sie über die Ursachen von Fanatismus
und über die »endlosen Kriege« der
USA. »Es war ihm wichtig, dass wir
kritisch denken«, sagt Winner. »Die-


se Gespräche haben mein Leben ge-
prägt.«
Im Jahr 2010 ging sie zur Luftwaf-
fe, sie glaubte, damit zum Frieden bei-
zutragen. Nach der Grundausbildung
posierte sie für ihr offi zielles Air-
Force-Foto, auch das steht bis heute
im Wohnzimmer: Winner in blauer
Paradeuniform, die Kappe leicht
schief auf dem noch glatten Haar.
Zwei Hunde schwänzeln um den
Esstisch herum, zwei weitere streu-
nen durchs Haus. Winner liebt Tiere,
auf der Weide draußen grast ihr Pferd,
ein Brauner namens Trouble.
In der Familie spielte das Militär
eine große Rolle. Ihr Stiefbruder
arbeitet als Russischlinguist bei der
Luftwaffe, also dachte sich Winner:
Ich will auch Linguistin werden. Sie
war sprachbegabt, in der Highschool
hatte sie Latein und Spanisch, neben-
her brachte sie sich Arabisch bei. Die
Air Force bildete sie zur kryptologi-
schen Linguistin aus, die verschlüs-
selte fremdsprachige Kommunikation
analysieren kann, sie lernte Dari,
Farsi und Paschtu, die Sprachen Irans
und Afghanistans. Sie hieß »Airman
Reality L. Winner«.
Doch sie wurde nicht in andere
Länder geschickt, wie sie gehofft hat-
te, sondern nach Fort Meade, auf eine
gesichtslose Armeebasis in Maryland.
Winner wird wortkarger, wenn sie
über diese Zeit spricht. Sie bewegt
sich auf dem Minenfeld der Staats-
geheimnisse. Fort Meade beheimatet
das Hauptquartier der NSA und die
Cyberkommandozentrale der US-
Streitkräfte, von der aus Amerika die
Welt bespitzelt, genannt »Crypto
City«.
Winner saß bei Neonlicht in einem
fensterlosen Kabuff vor Computern
und Bildschirmen und trug Kopfhö-
rer. Hier hörte sie Telefonate und
Funksprüche im Nahen Osten und in
Zentralasien mit, in denen bestimm-
te Schlüsselworte vorkamen. Winner
sagt nur: »Wir erfüllten die Mission
und retteten amerikanische Leben,
eines nach dem anderen.«

Ihre Analysen bildeten die Grund-
lage für Drohnenangriffe, auch wenn
sie darüber ebenfalls nicht sprechen
darf. »Man verinnerlicht das«, sagt
sie nur. »Es verändert einen.« Fieber-
träume plagten sie, in einem hörte sie
immer nur ein Wort auf Paschtu. Es
war das Wort für Massengrab.
Nur einmal ließ sie durchblicken,
wie traumatisch das war. Ihre Mutter
erinnert sich: »Sie rief mich frühmor-
gens an, hatte eine harte Nachtschicht
gehabt, und das Einzige, was sie sag-
te, war: Wenn du auf deinem Bild-
schirm eine Person siehst, und die
explodiert plötzlich, puff!, dann soll-
test du sicher sein, dass du auch alles
richtig gemacht hast.« Zum Abschied
verlieh ihr die Air Force eine Medail-
le für »Errungenschaften im Dienste
an ihrem Land«, weil sie mitgeholfen
habe, »900 Feinde zu lokalisieren«,
»650 Feinde gefangen zu nehmen«
und »600 Feinde zu töten«.

Ende 2016 kehte sie ins Zivilleben
zurück. Sie fi ng als Dolmetscherin
bei Pluribus International an, einer
Pentagon-Vertragsfi rma bei Augusta
im US-Bundesstaat Georgia. Ihr
Privatleben, fernab von Freunden
und Familie, schrumpfte auf Yoga-
stunden und CrossFit-Training. Ihr
Vater Ronald starb kurz vor Weih-
nachten. Die Essstörungen und De-
pressionen, unter denen sie seit Jah-
ren litt, wurden schlimmer.
In Washington bewegten unterdes-
sen Berichte und Leaks über Russ-
lands Wahleinmischung die US-Poli-
tik, ebenso lange spielte Trump sie
herunter. »Es ist sehr schwer zu sagen,
wer gehackt hat«, behauptete er im
April 2017. »Könnte Russland sein,
könnte China sein, könnten viele an-
dere Gruppen sein.«
Durch Zufall stieß Winner bei Plu-
ribus in einem internen Kommunika-
tionskanal auf ein Geheimdokument,
das Trump direkt widersprach. Titel:
»TOP SECRET//SI//ORCON/REL
TO USA, FVEY/FISA«. Das Papier,
datiert auf den 5. Mai 2017, beschrieb
detaillierte NSA-Erkenntnisse über
Versuche des russischen Militärge-
heimdienstes, im Vorfeld der US-
Wahlen 2016 die Mails von 122 US-
Wahlbeamten zu hacken, um in die
Computersysteme zu gelangen.
Am 9. Mai 2017 feuerte Trump den
FBI-Direktor James Comey, der sich
geweigert hatte, die Russlandermitt-
lungen einzustellen. Am selben Tag
druckte Winner das NSA-Dokument
aus. »Irgendjemand musste das doch
richtigstellen«, sagt sie. Sie faltete die
fünf Seiten zusammen und schmug-
gelte sie in ihrer Nylonstrumpfhose

Zum Abshied
verlieh ihr die
Air Force eine
Medaille, weil
sie mitge-
holfen habe,
»600 Feinde
zu töten«.
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