Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 9

Fördergeld gekürzt


SANKTIONEN Die Weigerung,
Urteile des Europäischen Ge-
richtshofs (EuGH) umzusetzen,
wird für die polnische Regie-
rung teuer. Die EU-Kommission
hat seit Jahresanfang 129 Millio-
nen Euro Fördergeld einbehal-
ten, das für Polen vorgesehen
ist – als Ausgleich dafür, dass
das Land ablehnt, vom EuGH
verhängte Bußgelder zu beglei-
chen. Der EuGH hatte Polen
Ende Oktober zur Zahlung von
einer Million Euro pro Tag an
die Kommission verurteilt, weil
die umstrittene Disziplinarkam-
mer des Obersten Gerichts trotz
eines EuGH-Urteils ihre Arbeit
bis heute fortsetzt. Zuvor hatten
die Richter gegen Polen bereits


ein Bußgeld von 500 000 Euro
pro Tag verhängt, weil War-
schau nicht wie gefordert den
Braunkohleabbau im Tagebau
Turów eingestellt hat. Trotz
monatlicher Zahlungsaufforde-
rungen der Kommission ist bis-
her kein Geld aus Warschau
eingegangen. Die Behörde von
Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen hat deshalb
die Fördermittel für Polen ge-
kürzt – die höher sind als bei je-
dem anderen EU-Land. Nach
Angaben der Kommission sind
dies 69 Millionen im Fall der
Disziplinarkammer und 60 Mil-
lionen für den Turów-Tagebau.
Man werde Polens Fördergelder
kürzen, »solange Polen EU-
Recht bricht«, sagte ein Kom-
missionssprecher. MBE

Begrenzte Zuflucht


FLÜCHTLINGE Das Bundesin-
nenministerium (BMI) möchte
bei einem geplanten Aufnahme-
programm jährlich maximal
5000 afghanische Flüchtlinge
nach Deutschland bringen las-
sen. Das geht aus einem Schrei-
ben des BMI an Parlamentarier
hervor. Darin heißt es, diese
Zahl sei voraussichtlich »opera-
tiv realisierbar«. Die Bundesre-
gierung hat das Programm im
Koalitionsvertrag vereinbart. Es
richtet sich an Personen, denen
nach der Machtübernahme der
Taliban Gefahr droht, etwa
Journalisten oder Lehrerinnen.
Erstmals werden nun Zahlen
dazu bekannt – und bergen
Konfliktpotenzial. »Zivilgesell-


schaftliche Organisationen wie
die ›Kabul Luftbrücke‹ haben
allein 3000 Menschen unter-
stützt und berichten von meh-
reren Zehntausend gefährdeten
Menschen«, sagt der Grünen-
Bundestagsabgeordnete Julian
Pahlke. Auch die Familien der
Gefährdeten müssten aufge-
nommen werden. Vor diesem
Hintergrund sei man über die
Größenordnung des Programms
mit dem BMI im Gespräch. Dis-
kutiert wird offenbar auch, wer
als Familienmitglied zählen soll.
Je nach Definition könnte das
Programm insgesamt mehr als
100 000 Menschen umfassen.
Das BMI teilte auf Anfrage mit,
die Kernelemente des Pro-
gramms würden derzeit abge-
stimmt. HAS

DIE DA UNTEN

Maßlos in München


Von Anna Clauß

N


ach langer Zeit des
Stillstands drehen sich
vielerorts die Riesenrä-
der wieder. Auf der Münchner
Theresienwiese, wo ich vor
vier Monaten in einem der
Impf- und Testzelte meinen
Corona-Booster erhalten
habe, stehen nun Festzelte.
Das Frühlingsfest ist die klei-
ne Schwester des Oktober-
fests und das erste richtige
Volksfest der Stadt seit Beginn
der Coronapandemie. Die
glitzernde Silhouette des Rie-
senrads strahlt mich auf mei-
nem Heimweg jedes Mal char-
mant an. Besucht habe ich die
kleine Wiesn bislang aber
nicht.
Die Virendichte im Bier-
dunst wäre mir egal. Mich
quält die Frage, ob man in
Zeiten wie diesen feiern darf.
Wie soll man sich am Prosit
der Gemütlichkeit, an der fro-
hen Botschaft der Lebkuchen-
herzen oder an einer Fahrt in
der Geisterbahn erfreuen,
wenn anderswo der Horror
eines Völkermords Realität
ist? In anderen Städten dieses
Landes kann man sein Gewis-
sen vielleicht mit dem Argu-
ment beruhigen, dass wäh-
rend der Kriege in Syrien,
Jugoslawien, Irak oder Afrika
auch keine Kirmesbuden ge-
schlossen oder Autoscooter
abgebaut wurden.
München aber ist nicht nur
die Heimat des größten Volks-
festes der Welt, sondern auch
die Partnerstadt Kiews. Die
Klitschko-Brüder waren vor
Ausbruch des Krieges gern ge-
sehene Gäste auf den Bier-
bänken der diversen Promi-
Zelte auf der Wiesn. Nun
kämpfen sie ums eigene Über-
leben und das ihrer Lands-
leute, während manche Früh-
lingsfestgänger bei Preisen
von bis zu 12,80 Euro pro
Maß nach einer Bierpreis-
bremse verlangen.

Allerdings gehört Bier in
Bayern zu den Grundnah-
rungsmitteln. Und dass deren
Verteuerung Familien oder
Rentner belastet, kann nie-
mand bestreiten. Die Verbun-
denheit im gemeinsamen
Rausch mag als Mittel zur
Völkerverständigung über-
schätzt werden, system-
relevant ist das gemeinsame
Feiern womöglich schon.
Deutschland wird noch sehr
viel mehr Durchhaltekraft als
bisher beweisen müssen, um
mit steigenden Energiekosten
fertig zu werden. Der Besuch
eines Volksfestes ist sicher
nicht die schlechteste Idee,
um sich Lebensfreude und

Opferbereitschaft zu erhalten.
Mein Verzicht auf Rummel
und Riesenrad spart nicht ein-
mal russisches Gas, denn das
Münchner Frühlingsfest wird
mit Ökostrom betrieben.
Den ukrainischen Kämp-
fern bringt es wenig, dass
auch der Münchner Oberbür-
germeister Dieter Reiter seine
Teilnahme am Frühlingsfest
abgesagt hat. Wenn ein SPD-
Bürgermeister lieber sein
eigenes Volksfest boykottiert,
weil »Menschen in diesem
brutalen Krieg sterben«, statt
den eigenen SPD-Kanzler
zu mehr Panzerlieferungen
zu drängen, wirkt das sogar
heuchlerisch. Die Ukraine
braucht Waffen, keine Be-
troffenheit.
Die Leichtigkeit des eige-
nen Seins kann einem manch-
mal unerträglich ungerecht
vorkommen. Letztlich ist mei-
ne fehlende Freude am Früh-
lingsfest aber ein Luxuspro-
blem, das vermutlich jede nach
München geflüchtete Ukrai-
nerin liebend gern gegen ihre
Sorgen eintauschen würde.

Mich quält die Frage,
ob man in Zeiten wie
diesen feiern darf.

An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.

Nachgezählt


Arbeitskräfte mit Blue Card* in Deutschland



  • befristeter Aufenthaltstitel speziell für akademische Fachkräfte aus Staaten außerhalb der EU
    S◆Quelle: Destatis


2016
33.500 2021





davon
36.
in Regel-
berufen

Die meisten
kommen aus:
Indien
China
Türkei
Russland

28%
6%
6%
4%

28 % von ihnen haben
in Deutschland studiert.

33.
in Mangel-
z. B. Ärztinnen undberufen
IT-FachkräfteÄrzte oder
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