Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1

AUSLAND


90 DER SPIEGELNr. 18 / 30.4.2022


aus der Kaserne. Der Knick in den
Blättern würde ihr später zum Ver-
hängnis werden. Tags darauf steckte
Winner den Bericht ohne Absender
in einen Umschlag, adressierte ihn an
»The Intercept« und warf ihn in einen
Briefkasten.
Sie sah das als »Dienst am ameri-
kanischen Volk«. Wahlexperten be-
stätigten voriges Jahr, dass Winners
Tat geholfen habe, spätere US-Wahlen
zu sichern. Heute fügt sie hinzu: »Ich
war sehr naiv.« Ihr sei klar gewesen,
dass sie Vorschriften gebrochen habe.
»Aber ich habe niemandem geschadet.
Ich habe keine Quellen gefährdet. Ich
habe keine Leben riskiert. Ich dachte,
man würde mich verstehen.«
Um das Dokument als authentisch
zu verifizieren, schickte ein »Inter-
cept«-Redakteur eine Kopie an die
NSA-Pressestelle – samt sichtbarer
Falten und der Markierungen des ur-
sprünglichen Druckers. Ein dummer,
fataler Fehler, der Winner die Freiheit
kosten würde.
Am 5. Juni 2017 veröffentlichte
»The Intercept« das Papier mit vor-
sichtigen Schwärzungen. Es sei »der
ausführlichste Bericht der US-Regie-
rung über russische Einmischung in
die Wahlen, der bisher ans Licht ge-
kommen ist«, hieß es in dem Artikel.


Die Jagd der US-Regierung nach
Whistleblowern und Leakern begann
nicht erst unter Trump. Schon Barack
Obama zog die Schrauben spürbar
an. Doch 2017, in Trumps erstem
Amtsjahr, stieg die Zahl der Ermitt-
lungsfälle wegen Herausgabe gehei-
mer Informationen von 37 auf 120.
Einer dieser Fälle war Reality Winner.
Das FBI identifizierte sie anhand der
Druckermarkierungen.
Am 3. Juni 2017 kam Winner
vom Supermarkt nach Hause, als ein
schwarzes Auto hinter ihr hielt. Zwei
Männer in Polohemd stiegen aus, sie
sah Schusswaffen, so erinnert sie sich.
Auf einmal umringten sie elf FBI-
Agenten in Zivil. Sie zeigten einen
Hausdurchsuchungsbefehl und sag-
ten, es gehe um möglichen Miss-
brauch von geheimen Informationen.
Zwei Agenten vernahmen sie in
der Abstellkammer, die anderen
durchsuchten die Wohnung. Sie fan-
den ihre Glock-Pistole unter dem Bett
und ihr halb automatisches Gewehr,
ein pinkfarbenes AR-15. Nach etwas
mehr als einer Stunde gestand sie, das
Dokument an die »Intercept«-Redak-
tion geschickt zu haben.
Zwei Tage später wurde Winner
nach dem Espionage Act angeklagt,
einem Gesetz von 1917. US-Vizejus-
tizminister Rod Rosenstein, der gera-


de erst bei der Comey-Entlassung
mitgewirkt hatte, verkündete die An-
klage persönlich: »Geheimmaterial
ohne Erlaubnis öffentlich zu machen
bedroht die Sicherheit unserer Nation
und untergräbt das Vertrauen der Öf-
fentlichkeit in die Regierung.« Der
Haftrichter verweigerte ihr wegen
Fluchtgefahr eine Haftverschonung
auf Kaution. Sie blieb eingesperrt,
während sich das Verfahren mehr als
ein Jahr hinzog.
Das Lincoln County Jail, in dem
sie auf ihren Prozess wartete, zer-
mürbte Winner. Die anderen Frauen
waren meist Crystal-Meth-süchtig.
Sie hielt sich im Hof fit, einmal er-
spähte sie ein Paparazzo durch den
Zaun, als sie sich in ihrem Häftlings-
Outfit mit der Aufschrift »INMATE«
zu Yogaposen verbog. Ihre Bulimie
flammte wieder auf. Sie ritzte sich in
die Haut.
Im Juni 2018 bekannte sich Win-
ner schuldig. Der von Trump bestall-
te Staatsanwalt Bobby Christine, ein
Irakveteran, donnerte: Winner habe
»außerordentlich schweren Schaden
für die nationale Sicherheit« ange-
richtet. Das Strafmaß folgte im Au-
gust: fünf Jahre und drei Monate. Für
fünf Aktenseiten.
Es war eine absurd hohe Strafe.
Das, sagt sie, sei die Zeit gewesen,
in der sie ihren Suizid geplant habe.
»Ich wollte nicht mehr. Ich wollte
meine Familie befreien.« Nur die
Nähe ihrer Mutter, die nach Georgia
gezogen war, hielt sie davon ab. Nach
Zwischenstationen in Florida und Ok-
lahoma kam Winner in ein Frauen-
gefängnis in Fort Worth, Texas. Häft-
lingsnummer 22 056-021.
Ihre Zelle maß zweieinhalb mal
dreieinhalb Meter, zwei Etagenbet-
ten. Winner beschreibt sexuellen
Missbrauch, Gewalt, Drogen, aber
auch Freundschaften unter den Frau-
en. Sie zerbröselte Pillen, schnupfte
das Pulver wie Koks, um dem Dasein

Marc Pitzke n

»die Kante zu nehmen«, erbrach sich,
schnitt sich. Sie erzählt das alles, als
sei es jemand anderem passiert. Um
den Draht zur Außenwelt nicht zu
verlieren, schaute sie die Nachrichten
der BBC.
Ihre Mutter warf unterdessen in
den sozialen Medien eine #FreeRea-
lity-Kampagne an. »Ich hatte zwar
Rückhalt bei einer kleinen Zahl an
Unterstützern, die immer für uns da
waren und mich motiviert hielten«,
sagt Winner-Davis. »Darüber hinaus:
nichts. Niemand half.« Gnadengesu-
che und Petitionen blieben erfolglos,
bei Trump wie beim Nachfolger Joe
Biden.

Im Juni 2021 wurde Winner wegen gu-
ter Führung in ein Übergangswohn-
heim entlassen. Ihre Mutter und ihre
Schwester Brittany holten sie ab, Brit-
tany brachte ihr Baby mit, sie gingen
erst mal essen. Viel Zeit hatten sie
nicht, weil Winner abends im Wohn-
heim einchecken musste, sechs Auto-
stunden entfernt. Sie bekam eine Fuß-
fessel, musste sich regelmäßig mel-
den, immer sofort ans Handy gehen,
alle zehn Tage einen Drogentest ma-
chen. Sie durfte nicht allein Auto fah-
ren. Um 18 Uhr musste sie das Licht
löschen.
Selbst zu Hause ist sie jetzt noch
nicht ganz frei. Ihre Bewährung gilt
noch bis zum 23. November 2024.
Immerhin hat sie jetzt einen Job, in
einem CrossFit-Studio in Kingsville.
Über ihre Vorstrafe sieht man dort
hinweg, ihre Chefin ist die Mutter
einer alten Schulkameradin.
Winner geht nach draußen. Trou-
ble kommt schnaubend angetrabt, sie
streicht ihm über die Nase. »Was gibt
es Schöneres?«, sagt sie. Dann zeigt
sie ihr Sportstudio im Schuppen:
Hanteln, Gewichtsplatten, Klimm-
zugstange, Schulterpresse, Ruderma-
schine, alles gespendet von Freunden.
Hat sie den Glauben an die USA
verloren? »Ich bin keine Reforme-
rin«, sagt Winner. »Ich bin eher eine,
die alles niederbrennt und neu an-
fängt.« Aber das dürfte sie auch nicht
laut sagen, es könnte ihr falsch aus-
gelegt werden.
Einst wollte sie hinaus in die Welt,
nun will sie nicht mehr weg aus Süd-
texas. Sie zeigt zum Ende des Grund-
stücks, auf die flimmernden Weiden
am Horizont. Dort steht, gerade noch
zu sehen, eine winzige Baracke, die
sie zu einem Atelier ausbauen will.
Dort könnte sie mit dem Schweiß-
brenner Kunst machen, wenn ihr die
Gefühle zu viel werden, ganz allein,
mit maximaler Distanz zur Welt.

Ein schwarzes
Auto hielt
hinter ihr. Elf
FBI-Agenten
umringten sie.

Strafgefangene
Winner 2018: Sie
betäubte sich,
erbrach, schnitt sich

Bob Andres / Atlanta Journal-Constitution / TNS / Sipa Press / ddp
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