Der Spiegel - ALE (2022-04-30)

(EriveltonMoraes) #1
SPORT

Nr. 18 / 30.4.2022DER SPIEGEL 93

A


ls die scheinbar übermächtigen
Berliner bezwungen sind, baut
sich Malte Ziegenhagen vor
einem Fanblock auf und greift zum
Mikrofon. »Danke, Chemnitz, für
diesen geilen Abend«, ruft der Kapi-
tän der Niners Chemnitz.
Dann hüpft er wild mit den Team-
kollegen zu Uffta-uffta-uffta-täterä
und vergisst beinahe, dass er seine
kleine Tochter auf dem Arm hat. 4400
Zuschauer in der Arena flippen aus,
als hätten sie die Meisterschaft gewon-
nen. Der Lärm ist ohrenbetäubend.
Für den aktuellen Meister Alba
Berlin ist die 64:81-Niederlage Ende
März ein Ausrutscher, für die Sachsen
ist es der erste Sieg gegen das große
Berlin in der Klubgeschichte – ein
historischer Triumph.
Bis zu seinem Aufstieg 2020 hat
Chemnitz von der Basketball-Bun-
desliga (BBL) nur träumen können,
weil Geld und Personal fehlten. In-
zwischen zählen die Niners zu den
bekanntesten Sportmarken Ost-
deutschlands, machen Topteams wie
Berlin und dem FC Bayern Konkur-
renz. Sie warfen die Münchner aus
dem Ligapokal, obwohl deren Etat
mit etwa 23 Millionen Euro rund
sechsmal so groß ist wie der eigene.
Ab Mitte Mai spielt Chemnitz in
den Playoffs um die Meisterschaft –
als erstes ostdeutsches Team seit
21 Jahren.
Es ist eine Erfolgsgeschichte, nicht
nur sportlich. Auch darüber, was
man gemeinsam erreichen kann,
gegen Widerstände und gegen Vor-
urteile. Dass es sich zu kämpfen
lohnt, auch ohne das große Geld. In
Sachsen, das seit je mit rechten
Umtrieben ringt und in dem mehr
Menschen AfD wählen als in jedem
anderen Bundesland, sind die Niners
zu einem Leuchtturmprojekt gewor-
den. Sie selbst hören das nicht gern,
definieren sich lieber über sportliche
Meriten.
Malte Ziegenhagen, 31, ist ein Ge-
sicht des Chemnitzer Erfolgs. Bis er
vor sechs Jahren in die Stadt kam,
wusste der Berliner nicht einmal, wo
sie liegt, erzählt er. Der Mann mit
dem auffälligen Haardutt wusste nur,
dass der Klub in der zweiten Liga
ProA startet. Anfangs wohnte er im
Plattenbau, außer Sport und einem
Managementstudium gab es wenig zu
tun. »Ich wollte nur eine Saison blei-
ben und dann in die erste Liga.«
Es kam anders. Ziegenhagen wur-
de bester Punktesammler im Team,
Wortführer, Publikumsliebling. Fans
druckten sein Konterfei auf Poster.
»Chemnitz begann, Bock zu ma-
chen«, sagt er, »hier spielst du nicht


für viel Geld, sondern für Emotio-
nen.« Ziegenhagen begriff, dass die
frühere Arbeiterstadt, die Idole wie
Katarina Witt, Lars Riedel oder Mi-
chael Ballack hervorgebracht hat,
eine spezielle Bindung zu Sportlern
pflegt. »Die Fans wollen dich ackern
sehen«, sagt er, »wenn du das machst,
lieben sie dich bedingungslos.«
Die Verehrung der Basketballer
begann in Chemnitz, als Anfang der
Neunzigerjahre der erste Amerikaner
spektakulär Bälle in den Korb warf.
Immer mehr Zuschauer wollten den
Sport sehen, der durch Superstars wie
Michael Jordan in Deutschland zu-
nehmend populärer wurde.
Auch in Chemnitz waren es vor
allem schwarze Spieler, die die Fans
mit ihrer Spielweise begeisterten. Sie
wurden zu Zuschauermagneten, zu
Aufstiegshelden, ihre Namen erlang-
ten Kultstatus – in einer Region und
zu einer Zeit, in der es Ausländer
schwer hatten, akzeptiert zu werden.
Der Schock war groß, als im Au-
gust 2018 Tausende Rechte und deren
Sympathisanten in Chemnitz aufmar-
schierten, um eines mutmaßlich von
Flüchtlingen erstochenen Deutsch-
kubaners zu gedenken. Hässliche Bil-
der von rassistischen Parolen und
Hitlergrüßen gingen um die Welt. Der
Ruf der Stadt, die zur Europäischen
Kulturhauptstadt 2025 gewählt wor-
den ist, war beschädigt. Als Reaktion
darauf trafen sich Bands wie die Toten
Hosen zu einem Solidaritätskonzert
in der Nähe der Johanniskirche, um
gegen rechte Schläger und Hooligans
zu protestieren.
So mancher Amerikaner der Ni-
ners sorgte sich nach dem Aufmarsch
der rechten Krakeeler um die eigene
Sicherheit, Spielerberater riefen an,
weil sie Angst um ihre Klienten hat-
ten. Die Klubverantwortlichen muss-
ten beschwichtigen und erklären, dass
ein Großteil der Rechtsextremen von
außerhalb kam. Dass der Mob die
Stadt für seinen Hass auf Migranten
instrumentalisiert hatte. Tatsächlich
soll bis heute kein Niners-Spieler an-
gefeindet worden sein.
»Das Narrativ vom bösen, rechten
Osten verkauft sich trotzdem gut«,
sagt Oberbürgermeister Sven Schul-
ze, 50. »Aber die Zeiten haben sich
geändert, auch in Chemnitz.« An
einem Samstagvormittag sitzt der
SPD-Politiker in einem Café unweit
des Rathauses, am Revers ein Stadt-
wappen-Anstecker.
Schulze bestreitet nicht, dass
Chemnitz bis heute mit rechten Strö-
mungen kämpft, angeheizt durch die
Flüchtlingskrise und vermeintliche
Verlustängste der Bürger. »Nachwe-

hen der Wendezeit«, nennt er das.
Allerdings seien rechte Attitüden in
der Gesellschaft immer weniger sa-
lonfähig und mit einem gewissen
»Igitt-Faktor« behaftet.
Der Fußball sei das beste Beispiel,
sagt der Oberbürgermeister, ein be-
kennender Anhänger des Chemnitzer
FC. Noch vor fünf Jahren pilgerten
bis zu 10 000 Fans zu den Heimspie-
len; heute kommen nur noch 1000
bis 3500 Zuschauer ins Stadion des
Viertligisten. Das nachlassende Inte-
resse liege auch an rechtsextremen
Fangruppierungen, die 2019 im Sta-
dion einem verstorbenen, stadtbe-
kannten Neonazi huldigten. »So et-
was widert die Leute zunehmend an«,
sagt Schulze.
Und so haben die Basketballer den
Fußballern den Rang abgelaufen, sind
inzwischen deutlich beliebter. Fami-
lien und junge Menschen gehen nicht
zum Saufen und Pöbeln in die Halle,
sie wollen Sport sehen und Spaß
haben.
Im Klub waren sie trotzdem ner-
vös, als Angela Merkel vor drei Jah-
ren überraschend ihren Besuch zu
einem Heimspiel ankündigte. Die
damalige Kanzlerin wollte nach den
rechten Protesten ein politisches Zei-
chen setzen. Würden die Zuschauer
Merkel auspfeifen? Würden sie sie mit
Eiern bewerfen, wie es Merkel an-
derswo im Osten erlebt hatte?
Statt Buhrufen erhoben sich die
Chemnitzer Fans und klatschten, als
die Bundeskanzlerin die Halle betrat.
»Angie, wink uns mal«, riefen sie.
Merkel winkte zurück, strahlte,
machte Fotos mit den Spielern. So
viel Herzlichkeit hatte sie offenbar
nicht erwartet – ausgerechnet im Os-
ten, wo sie für ihre Flüchtlingspolitik
oft laut beschimpft worden war.
»Die rechten Proteste waren für
uns ein Tiefschlag«, sagt Niners-Ge-
schäftsführer Steffen Herhold. Bis
heute spüre er das auf dem Spieler-
markt. Es sei schwierig, deutsche Ta-
lente mit Migrationshintergrund für
Chemnitz zu begeistern. Kandidaten
lade er im Sommer deshalb gern auf
einen Stadtrundgang ein. Mancher
staune dann, dass er auf der Straße
gar keine Nazis treffe, sagt Herhold
und lacht, dieses Vorurteil sei »ja auch
völliger Quatsch«.
Steffen Herhold, 43, geboren und
aufgewachsen in Chemnitz, ist einer
der Macher hinter dem Erfolg des
Klubs. Als Jugendlicher stand er
selbst mit einer Trommel im Fan-
block, brüllte sich die Seele aus dem
Leib. Als BWL-Student wollte Her-
hold Sportmanager werden, »einer
wie Uli Hoeneß«. Er verschlang den

Hoch-
gekämpft

Abschlussplatzie-
rungen der Niners
Chemnitz seit 2016

S Grafik

2016/17
Zweite Liga Platz 3*
2017/18
Zweite Liga Platz 11
2018/19
Zweite Liga Platz 1*
2019/20
Zweite Liga Platz 1**
2020/21
Bundesliga Platz 14

* im Halbfinale der Meister-
runde ausgeschieden
** Saison wegen Corona
vorzeitig beendet, Chemnitz
steigt als Erster der
Abschlusstabelle auf

2021/22
Bundesliga

aktuell
Play-offs
um die
Meister-
schaft

Trainer Pastore: Wer
nicht an seinen
Schwächen arbeitet,
kann gehen

Witters
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